Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
»Praktika« gewartet und sowohl den fliegenden Gelben Köstlichen als auch Ulrichs Landung fixiert; die Plattenkamera hielt Umschau auf Menos Balkon. Ein anderes war, daß sich Ulrich überlegte, am Silvesterabend eine Karte an seinen Zahnarzt zu schreiben. »Niemand wünscht seinem Zahnarzt ein gutes neues Jahr. Und dabei – wer weiß, was für ein leidgeprüfter Mensch das ist. Ich sage immer, schenke einer Blumenverkäuferin Blumen und einem Zahnarzt ein Lächeln zum neuen Jahr. Warum nicht. Auch wenn es von ihm ist. Und auch, wenn er Frau Doktor Knabe heißt.« Wenn er wie jetzt an der Stirnseite eines reichlich gedeckten Tischs Platz nahm, an dem sich genügend Zuhörer fanden, brachte er gern Wissen im Brustton der Überzeugung vor, das lückenhaft war und einer Überprüfung nicht standgehalten hätte; doch obwohl auf manchen Gesichtern Zweifel keimte, schien Ulrichs selbstbewußte Körpersprache, der Gesichtsausdruck mehr verschweigender als aussprechender Gewißheit überzeugend genug, um die Skepsis nicht lautwerden zu lassen. Man kroch in sich zurück, wußte es plötzlich nicht mehr genau, fürchtete, sich zu blamieren – wie man es wagen konnte, an einer Kapazität wie dem ältesten der Rohde-Geschwister, dem Technischen Direktor eines bedeutenden Dresdner Betriebs (man stellte Schreibmaschinen, Kleinmotoren und Federn her, letztere von der Matratzen- bis zur Blattfeder für Reichsbahnwaggons), einem »Held der Arbeit« (einen Teil der damit verbundenen zehntausend Mark hatte Ulrich für die Kuba-Reise gespendet) und intimen Kenner der Auf und Abs (und vor allem der Hin und Hers) der Planwirtschaft zu kratzen; man wagte es nicht und schwieg, zu Hause aber sah man nach, schmunzelte oder schlug sich aufs Knie in rechtschaffenem Ärger und im festen Vorsatz, Ulrich beim nächsten Mal zu entlarven. Gudrun allerdings schwieg nicht: »Das finde ich interessant, Uli. Du bist sehr überzeugend, du könntest ohne weiteres einen Direktor in einem Stück über, sagen wir, einen sozialistischen Schnellmaurer spielen.Fast findet man es schade, daß deine felsenfesten Gewißheiten falsch sind. Zum Beispiel heißt die Dresdner Garnisonkirche eben Garnisonkirche und nicht Garnisonskirche, obwohl sie korrekterweise so heißen müßte. Sonst wäre es ja eine Kirche in Form einer Garnison, nicht wahr? Aber alle Achtung, du bist ein Naturtalent, Uli, das muß ich dir lassen, und du wirst es noch weit bringen, vielleicht bis zum Schnellmaurer.«
    Ulrich stutzte dann, prüfte die Wirkung, die der Einwurf bei den Zuhörern hinterlassen hatte, machte eine Bemerkung über die bekannte Weltfremdheit der Kulturschaffenden und fuhr in der Rede fort. Außerdem gab es Onkel Schura. Weder Meno noch Anne hatten ihn je gesehen, Kurt zuckte die Achseln, wenn man ihn auf diesen ominösen Onkel ansprach; Ulrich beteuerte, ihn seit der Kindheit zu kennen und auch jetzt noch (er sei ein sehr einflußreicher Mann in Moskau, wirke aber »hinter den Kulissen«) mit ihm »Geschäfte zu machen«. Von diesem Schura stammten angeblich allerlei Rezepte, die Ulrich als »wirklich gediegen« und aus den »Tiefen des russischen Volkes auf uns gekommen« bezeichnete, zum Beispiel eine Anleitung zur Herstellung von Schnellgurken, die Onkel Schura von seiner Babuschka und diese von der Baba-jaga selber bekommen habe. Die Babuschka habe das Rezept dem Onkel Schura auf dem Sterbebett mitgeteilt, gewissermaßen verhauchend, mit kaum noch vernehmbarer Stimme, nachdem sie die Ikone geküßt und sich bekreuzigt hatte; und Onkel Schura wiederum habe es ihm, seinem Freund von Jugend auf, unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit und zur Verbesserung der Völkerfreundschaft weitergegeben (wenn auch nicht auf dem Sterbebett). Ebenso ein Rezept für Kwaß und eine Spezial-Methode zur »ultimativen« Reparatur von Fahrradreifen. Auch der Wodka, der Helmut Hoppe allmählich fidel werden ließ, entsprang der russischen Unergründlichkeit, mit der Onkel Schura in traumwandlerischgeheimnisvoller Verbindung stand.
    »Na, Uli, nu laß ma’ guck’n!«
    »Ich mach’ mich schuldig, wenn ich’s dir verrate. Vom Sterbebett der Großmutter stammt’s, da geht man eine Verpflichtung ein, das plaudert man nicht aus!«
    »Versteh’ ich ja. Aber wir sind deine Verwandten, dein eigenFleisch und Blut! Du willst nich mit uns teil’n, willst alles für dich behalten, pfui, mei Gudster, schäme dich. Hättsch ni’ von dir gedacht, hätt isch ni’.«
    »Na schön, weil

Weitere Kostenlose Bücher