Der Turm
angehaltenen Atem nach den spannendsten Momenten einer Operntragödie; der Wind legte sich, frischte auf, hob Blütendust und Winterasche in feinen Schärpen – unschlüssig wie ein Kind, das mit Sand spielt und sich langweilt. Die ersten Regentropfen brachen Kleckse Schiefergrau in die Helligkeit der Straße. Christian ging zum Tausendaugenhaus zurück, als der Himmel einem Schwimmbad aus Tinte glich, eingefaßt von rudernden Baumkronen; in den Gärten wurden hastig Tische abgeräumt oder mit Planen geschützt, Kofferradios und Kinder in Sicherheit gebracht. Ein Hündchen kam über einen Gartenweg gerannt und kläffte, wirbelte zornig mit den kleinen Pfoten am Tor. Wie geheimnisvoll das war.
Tanz; die Kapelle aus der Tanzschule Roeckler zog sich, ohne einen der Titel zu unterbrechen, unter das Blätterdach der Eichen und die dort aufgespannte Persenning zurück, Instrument für Instrument, zuerst das Cello, dann die Geige, zuletzt wurde der Flügel samt Pianist unter die Bäume gerollt. Dann fiel der Regen so dicht, daß die Luftschlangen über den Weinrosen zerrissen und für einen Augenblick Unsicherheit aufkam. Herr Adeling aber blieb im Tor stehen, kerzengerade im Frack und durchsichtig werdendem weißem Hemd, die Linke hielt ein Tablett mit Sektgläsern, ein Serviertuch hing über dem Arm wie ein totes Hermelin. Da faßte Gudrun Niklas fester; Herr Honich, der beste Tänzer, harrte mit Traudel Hoppe aus; Barbara und Ulrich warfen ihre Schuhe beiseite, denn schon entstanden Pfützen. »Über sieben Brücken mußt du geh’n«. »Kalimba de luna«. »Goodbye ruby tuesday«. Meno beobachtete, wie der Regen allmählich den Sekt in den Gläsern ablöste, bis die Flüssigkeit wasserklar geworden war. Herr Adeling bewegte sich nicht. Unter Jubel und Hurrarufen wurden Gudrun Tietze und Pedro Honich als beste Tänzer geehrt. Doch blieben sie ungeküßt: Ina und Thomas Wernstein waren verschwunden.
44.
Mach es wie die Sonnenuhr
Sich als Sozialist in der Nationalen Volksarmee zu bewähren, als Soldat stets im Sinne der Arbeiterklasse zu denken und zu handeln, das heißt für Sie nunmehr, sich den Gesetzen des militärischen Lebens unterzuordnen
vom sinn des soldatseins
»Schnauze«, grollte es aus der Kommandantenstube, als Christian geklopft hatte.
»Genosse Feldwebel, gestatten Sie, daß ich eintrete.«
»Das Ohrli ist also aus dem Urlaub zurück, sieh mal an.« Feldwebel Johannes Ruden, Stubenältester, war ein vierundzwanzigjähriger Mann mit grauen Haaren. »Auch noch eher, als ermüßte. Kriegt Urlaub, das ist schon mal der Hit, und dann ist er auch noch blöd, bleibt nicht bis zur letzten Minute. Merk Dir: Ein Panzerlude schenkt der Truppe nix, mein Freund. Steh nicht so dumm rum, mach das Brett ran. Rogi, was schlägst du vor?« Unteroffizier Steffen Rogalla, wie Ruden im sechsten Diensthalbjahr und damit Entlassungskandidat, spannte die Daumen unter die Hosenträger über einem zivilen Nicki und dachte nach, während Christian die Tasche auf sein Bett hob und zum Spind ging, um die Ausgangsgegen die Revieruniform zu tauschen.
»Erstmal die Tasche her.« Rogalla ließ die Hosenträger schnipsen. »Wollen sehn, was Ohrli von zu Hause mitgebracht hat.« »Genosse Feldwebel, gestatten, daß ich spreche?« Christian, der auf der Unteroffiziersschule gelernt hatte, sich in rasender Schnelligkeit umzuziehen, nahm vor Ruden Haltung an. Der winkte gnädig. »Der Urlaub wurde mir vom Genossen Stabsoberfähnrich Emmerich genehmigt.«
»Gegen einen Auspuffkrümmer Polski Fiat, wissen wir. Hier ist er.« Rogalla hielt ihn hoch, fuhr dann fort, in der Tasche zu wühlen, die er auf den Tisch gestellt hatte. »Dafür kriegt ein Ohrli keinen Urlaub. Du hättest ’nen Brief schreiben und dir das Ding schicken lassen können. Statt dessen kriegst du Höhe und fährst zu Muttern, während die höheren Diensthalbjahre hier für dich rackern müssen!«
»Hab’ dein Revier übernommen, du Tagesack!« krähte Thilo Ebert, Unteroffizier im dritten Diensthalbjahr, und spielte mit der Kontermutter an seinem Schlüsselbund. Ruden war es, der die Spitznamen an die Kommandanten unter dem dritten Diensthalbjahr vergab. Da er Altphilologie studieren wollte, waren es lateinische und griechische; Thilo Ebert hatte er Muska getauft, die Fliege, denn nur jemandem mit einem Fliegengehirn könne es einfallen, Gefrierschutzmittel zu kippen. »Soll heißen, du Arsch, wenn du schon in Urlaub wegtrittst, dann nicht heimlich, still und
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