Der Turm
Tür stehenblieb, die Hand schon innen am Öffnerzapfen, sah er die Flügelschatten einer Seiffener Pyramide über die Wohnzimmerdecke der Hoffmanns wandern. Im Haus Abendstern brannte im Bad der Orrés Licht (Erik Orré pflegte seine Texte in der Badewanne zu lernen), bei Tietzes war das Musikzimmer erleuchtet, der gelbe Schein sickerte durch die baufällige, von einer Fichte halbverborgene Veranda; Meno sah einen Schattenbogen an der Kinderzimmerdecke auf- und abtanzen: Ezzo übte. Ob er Annes Kinnstütze benutzte? Für Niklas’ Musikstunde war es noch zu früh. Wenn Gudrun nicht ins Theater mußte und Niklas keinen Hausbesuch mehr zu erledigen hatte, war um diese Zeit das Musikzimmer von feinem Bratapfelduft erfüllt; der Kachelofen neben Spiegel und Récamiere hatte über dem Sims eine Wärmeröhre, in der Niklas die Purpurroten Consinot, Cox Orange, Rheinischen Krummstiefel, Winterstettiner aus den Gärten des Elbhangs eher dünstete als briet – mit unvergleichlichem Ergebnis, nie hatte Meno ähnlich wohlschmeckende Bratäpfel wie bei Tietzes gegessen. Wenn er nach einigen Minuten die Heinrichstraße hinunterging, wurde er oft von lautem »Bahne frei!« aus dem Sinnieren gerissen: Rodelschlitten mit aufgebogenen Hörnern und »Hitschen« (flache aus Holz, Marke »Davos«, oder aus Eisen und Olims Zeiten, mit Rundkufen und Sitzen aus geflochteten Lederstreifen) wollten zur abschüssigen Dachsleite, wo fröhlicher Ski- und Schlittenbetrieb herrschte, unbeeindruckt von Dunkelheit und Schneetreiben.
Zur Weihnacht stellten die Familienväter die Tannenbäume auf, die sie auf dem Striezelmarkt oder bei Förster Busse (das waren die besseren, freilich auch teureren) gekauft hatten, holten die Tannenbaumständer vom Dachboden, die Engel und farbigen Glaskugeln zum Schmücken, hängten Lametta über die Zweige. Niklas besaß noch Stanniolstreifen, und stilecht dekorierte er denBaum mit dem einfachen erzgebirgischen Holzschmuck, der von Generation zu Generation weitergegeben worden war, und mit echten Kerzen, für die er Tannenzapfenhalter anzweckte. Grüne, rote und silberne Kugeln, am höchsten Wirtel der Stern, dazwischen die knittrigen Alufransen, die in der Weihnachtsabteilung des »Centrum«-Warenhauses unter »Lametta« angeboten wurden: so ausstaffiert stand die Dresdner Durchschnittstanne (die in Wahrheit eine Blaufichte war) auf ihrem Ehrenplatz in den Wohnzimmern und warf bereits vor dem Kirchgang ihrer Besitzer die ersten Nadeln ab. Meno verbrachte den Heiligabend bei Londoners; Jochen Londoner hatte ihn eingeladen: Hanna habe Dienst in der Prager Botschaft, Philipp und »Gefährtin« (so der alte Londoner nach einer Bedenksekunde) würden »der Jugend Farb’ und Lebenslust / ins Rauchgrau unsrer Tage mischen«. Ein Geschenk besorgte Meno nicht; Libussa schnitt ihm Rosen für Irmtraud Londoner ab und machte die Augen weit über seine Bemerkung, dies sei ein Mitbringsel, kein Geschenk, und er blieb dabei, obwohl er wußte, wie sehr sich Irmtraud Londoner über Blumen freute. Mit einem schönen Blumenstrauß in der Hand konnte sie sogar, was sonst nie vorkam, soweit Meno wußte, krallig gegen ihren Mann werden: Siehst du, Jochen, du studierst die Wirtschaft und hast das ganze Haus voller gelehrter Untersuchungen; aber dieser junge Mann hier ist es, der mir Rosen im Winter bringt. Libussa wollte nicht gekränkt sein, denn für die Rosen würde sich Meno mit Holzhacken und Kohlenschleppen revanchieren, vier Eimer, die darüber nötigen wollte Pedro Honich »in Timurhilfe« übernehmen. Frau Honich, die mit Einwickelpapier zur Stelle war, setzte ein streichzartes Lächeln auf, als sie sich vergewisserte: Londoner – habe sie da eben richtig gehört? – Sie habe. – Der berühmte Jochen Londoner, der im Wochenmagazin »Horizont« schreibe – und hin und wieder auch ein Buch?
Hin und wieder: Londoners Ausstoß war berüchtigt; er fand nichts dabei, Reste zu verwerten, längst Gedrucktes umzuarrangieren und für neu auszugeben; Meno erwiderte das Babett Honichsche Lächeln (wenn auch argwöhnisch); ihm war eingefallen, daß dies Londoner-Worte gewesen waren: »und hin und wieder machen wir ein Büchlein«, dies pflegte er in seinenzahlreichen Interviews zu wiederholen, denen niemand dieses »wir«: pluralis majestatis? Londoner Oberhaupt eines kapitalistisch geschäftstüchtigen Familienunternehmens? herauszuredigieren wagte. – Aber da sei der Herr Rohde ja ein bedeutender Mensch, wenn er mit Londoner
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