Der Turm
zu genießen, war Jochen Londoner ein Oströmer, dazu einer, der manchen Spott für diesen Abend hatte: so feierte man dennoch, und Londoner hielt sowohl Irmtraud als auch seine Kinder an, zuerst die Bräuche zu achten, dann »kritisch das Fest zu begehen«. Das nannte er Dialektik. Hieß: Er achtete das Dekor, begegnete aber dem Ritual, dem doch das Dekor abkürzendes Sinnbild war, mit achselzuckender Gleichgültigkeit, sogar mit Herablassung und abweisendem Stolz, Stolz auf halbe Kenntnis, auf eine Freiheit, die für ihn darin liegen mochte, einem Klischee und den darin verborgenen Forderungen nicht zu genügen. Er, der »fröhliche Marxist und Akribiker«, wie er sich selbst halb ironisch, halb drohend nannte, war so frei, mit Laisser-faire dort aufzuwarten, wo andere es nicht erwarteten, wo sie betreten oder »bestenfalls« (manchmal sagte er auch »schlimmstenfalls«) neugierig auf das entlarvte Schablonendenken reagieren würden: » Der Jude «, knurrte er dann gereizt, »war im Exil, und der Jude , der im Exil war, muß doch die Bräuche des Judentums kennen, nicht wahr? Und wenn er sie kennt, muß er sie doch auch befolgen? Nicht wahr, das denkt ihr doch noch immer? Denn wie kann es sich der Jude erlauben, Bräuche zu mißachten, die so viele Leidensgefährten das Leben kosteten?« Und als Meno entsetzt schwieg: »Aber ich nehme mir a) die Freiheit, selbst zu bestimmen, wer oder was ich bin; ich bin kein Jude, ich bin ein Mensch, und als solcher nehme ich mir b) die Freiheit, über die Bräuche, die mir wichtig sind oder nicht, die ich befolgen muß oder nicht, ebenfalls selbst zu befinden!« So zündete er einen Chanukka-Leuchter an und die Lichter am Weihnachtsbaum, buk mit Irmtraud und Hanna, wenn sie über die Feiertage zu Hause war, Lebkuchen und Suffganioth, die wohlschmeckenden Ölkrapfen, frittierte Latkes, zu denen Philipp Kartoffelpuffer sagte, hängte Lametta und Treidel, kleine Spielzeugkreisel, an den Tannenbaum. »Wir feiern Weihnukka!« Und statt des »Maos-Zur-Jeschuati« oder »Stille Nacht, heilige Nacht« schallten die Beatles durch das Haus Nr. 9 am Zetkinweg, einer Sackgasse am Ende der Krupskaja-Straße.
Schokolade und Holz: Das war der Geruch der Bücher, und Meno kannte kein Haus, in dem er so gebietend und so einladend lebte wie im Haus Londoner.
»Chanukka!« rief Irmtraud beim Öffnen, faßte Meno bei den Schultern und berührte ihn »Wange-an-Wange«, eine Begrüßung, die er liebte, ihrer zarten, unaufdringlichen Intimität wegen, »Da hast du dem armen Kerl ja einen schönen Schreck eingejagt. Ich mußte es ihm erklären! Der wird jetzt telefonieren. – Aber du weißt, daß Jochen solche Scherze nicht mag, sag ihm nichts; er meint, das geht niemanden an, was und wie wir leben. – Sei zu Hause.«
Sei zu Hause, nicht »fühle dich« oder »fühle dich wie« zu Hause; dies einfache Willkommen hatte Meno immer gerührt; er schämte sich etwas, die Rosen so unfeierlich aus dem Mantel wickeln zu müssen, da er vergessen hatte, sie vor der Klingel aus dem Papier zu nehmen – und da er seine Rührung verbergen wollte, drückte er die aufknospenden »Maréchal Niel« Irmtraud, die seinen Hut und Handschuhe in den Händen hielt, mit einer schiefen Entschiedenheit entgegen, die nichts anderes war als Verlegenheit, welche er bei den Londoners nie ganz abzustreifen vermochte. Jochen wußte das. Meno polkte ausgiebig an den Schnürsenkeln herum, Tropfnässe oder Straßenschmutz auf den Teppichen brachten Irmtraud in Rage. Bei seinem ersten Besuch, dem Vorstellungsbesuch als Hannas »Freund«, vor dem Meno in Ermangelung anderer Mutmacher drei Fläschchen Magenbitter aus Schiffsarzt Langes Vorrat getrunken hatte, konnte der »alte Daseinskenner« (so Herr Professor, der Jochen Londoner für Meno damals gewesen war, mit verständnisvollem Nicken und ironisch einwärtsgekehrtem Daumen) sie ihm durch nichts zerstreuen: nicht durch eine Führung durch die Hausbibliothek, aus der er Kant-Erstausgaben und Brecht-Autographen zog und verschwenderisch ausblätterte, nicht durch den mit Leckereien bespickten Tisch, an den sich der Gelehrte demonstrativ hausväterlich in Strickjacke und schottisch gemusterten Pantoffeln setzte, durch keine der liebenswürdig eingehenden und weitgreifende Interessen anbietenden Fragen. Im Gegenteil hatte der Reichtum des Londoner-Haushalts (der ideelle sowohl wie der tatsächlich materielle auch) Meno noch mehr eingeschüchtert,und Londoner mochte das gespürt haben,
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