Der Überläufer: Tweed 3
elf Uhr fünfzehn.«
Tweed, der nicht mehr wußte, wie spät es war, schaute auf die Uhr und fluchte innerlich. Verdammtes Pech. Es war 11.25 Uhr, Newman bereits in den Wolken. Monica meldete sich wieder.
»Ich habe gerade auf die Uhr gesehen.«
»Ich weiß. Er ist weg. Wo machen sie Zwischenlandung, bevor sie ihr Ziel erreichen?«
»Sie machen keine. Es ist ein Nonstopflug. Landung um sechzehn Uhr zehn Ortszeit. Das ist gegenwärtig zwei Stunden unserer Zeit voraus.«
»Warten Sie einen Augenblick. Lassen Sie mich nachdenken.«
Tweed war entsetzt. Das falsche Ding am falschen Ort, wie er Howard gesagt hatte. »Monica, nach meiner Rechnung habe ich weniger als drei Stunden, bis er landet?«
»Das ist richtig.«
»Ich komme auf geradem Weg ins Büro. Suchen Sie die Nummer dieses Mädchens in Sibeliusstadt heraus, das uns vor ein paar Jahren geholfen hat. Sehen Sie zu, daß Sie sie haben, bis ich zurück bin. Nein, das werde ich selber erledigen. Es ist meine einzige Chance, diesen Menschen im Flugzeug vor Gott weiß was zu bewahren.«
3
Die Maschine hatte die Reiseflughöhe von 10000 Metern und die Reisegeschwindigkeit von 700 Stundenkilometern erreicht und befand sich über der Nordsee mit Kurs auf das Baltikum. In der Club-Klasse wurden Drinks serviert, aber Newman bat nur um ein Glas Orangensaft und ein Glas Wasser. Er trank nie Alkohol, wenn er flog – es beschleunigte den Dehydrierprozeß, der in den großen Höhen, in denen moderne Düsenflugzeuge sich bewegten, trotz der Druckkabine in Gang kam.
Er hatte einen Fensterplatz auf der Steuerbordseite, nahm jedoch nicht wahr, daß die Boeing Super 737 über einen Ozean aus Wolken dahinflog, der es einem unmöglich machte, einen Blick auf das Meer tief unten zu werfen. Seit er an Bord gegangen war, hatte er nicht aus dem Fenster gesehen. Als die Stewardess betonte, alkoholische Getränke wären frei, hatte es ihm einen Stich versetzt. Deswegen hatte es immer Streit mit Alexis gegeben.
»Alkohol entzieht Flüssigkeit …«
»So, und was macht das schon?« brauste sie dann auf. »Du mußt doch sicherlich inzwischen begriffen haben, daß ich Angst vorm Fliegen habe. Nur ein Drink kann diese Angst halbwegs dämpfen. «
»Tu, was du willst.«
»Das habe ich auch vor! Weil wir verheiratet sind, glaubst du wohl, ich gehöre dir?
Comprené?«
»Ja,
comprené«,
antwortete er dann.
»Also trinke und trinke und trinke ich, bis ich schwebe wie dieses verdammte Flugzeug. Und wenn wir dann landen – falls wir landen –, trägst du mich wie einen Vuitton-Koffer davon. Ist das okay?«
»Trink, soviel du willst.«
»Das tue ich. Ich trinke, soviel ich will,
chéri!«
Sie war sehr französisch, er sehr englisch. Feuer und Wasser, nicht gerade die beste Kombination. Hatten sie in einem Anfall böser Leidenschaft geheiratet? Fing es mit den meisten Ehen so an?
Außerdem war sie vom Wettbewerbseifer besessen. Noch dazu wetteiferten sie auf demselben Gebiet. Sie war Auslandskorrespondentin von
Le Monde.
Aber ihr Name stand in kleineren Lettern unter ihren Beiträgen als seiner unter den seinen. Das war eine ewig schwärende Wunde.
Eine schnelle Bewegung jenseits des Mittelganges zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein dunkelhaariges Mädchen stürzte seinen Drink in einem Zug hinunter. Wieder ein Erinnerungsbild. Alexis, die nach der Auseinandersetzung wild ihre schwarze Mähne schüttelte und mit herausfordender Geste ihr Glas in einem Zug leerte. Ein Segen – der Sitz neben ihm war leer. Auf dieser Reise konnte er gut ohne Gesellschaft auskommen.
Er griff nach der Aktentasche, die er stets mit an Bord nahm, die Aktentasche mit den wenigen Dingen, die er nicht verlieren wollte. Eine handlich gebaute Voigtländer-Kamera. Ersatzfilme. Sein Notizbuch. Sein Adressenverzeichnis. Einem großen Umschlag mit Papprücken entnahm er das Foto von Alexis, das er aus dem Rahmen auf der Anrichte in der Wohnung gezogen hatte. Ihr Gesicht war ihm direkt zugewendet.
Er würde das Bild zur Identifizierung brauchen, wenn er ihre letzten Schritte in Helsinki zurückzuverfolgen versuchte. Dazu auch ihren Mädchennamen. Alexis Bouvet. Er schob das Foto in den Umschlag zurück, den Umschlag wieder in die Tasche. Er schaute auf die Uhr. Noch zwei Stunden, dann landeten sie auf dem Flughafen Vantaa im Norden Helsinkis. Hatte die Stadt sich seit seinem letzten Besuch vor zwei Jahren verändert? Er bezweifelte es. Nervös rutschte er auf seinem Sitz vor und zurück, als sie mit dem
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