Der Überläufer: Tweed 3
des langen Fahrzeuges setzte sie sich ihm gegenüber auf einen Klappsitz und blickte ihm offen ins Gesicht. Er grinste, während er sich entspannt zurücklehnte, und blinzelte ihr zu. Der honigsüße Köder, dachte er. Das fängt ja früh an. Ihre nächsten Worte bestätigten seinen Verdacht.
»Wenn Sie über Nacht bleiben und einen zusätzlichen Tag hier verbringen wollen, geht das schon in Ordnung«, versicherte sie ihm. »Und ich stehe zur Verfügung …« Sie schob eine sekundenlange Pause ein. »Für das Abendessen«, schloß sie.
Er grinste liebenswürdig, genau das fröhliche Grinsen, das Frauen so vielversprechend fanden. Ihre wohlgeformten Knie berührten die seinen. Er tat nichts, um den körperlichen Kontakt zu unterbrechen.
»Sehen wir, wie’s wird«, sagte er.
Mauno war über diesen plötzlichen Stimmungsumschwung leicht entsetzt. Er versuchte Newman einen Blick zuzuwerfen, um ihn zu warnen, aber der Engländer hatte nur Augen für Raisa. Das Mädchen glaubte fest, sie habe ihn bereits eingefangen. Aber hübsch war sie, das mußte selbst Mauno zugeben.
Der Wagen fuhr mit mäßiger Geschwindigkeit, und Newman schaute aus dem Fenster. Auf einem Hügel, zwischen fünfzig und siebzig Meter hoch, schätzte er, stand eine alte Festung. Mit Interesse betrachtete er das eigenartige alte Bauwerk, hoch über Tallinn, die eigentümlichen, charakteristischen Türme an den Eckpunkten der Festungsmauer.
»Das ist Toompea«, erklärte Raisa. »Wir nennen es die Kleine Festung. Die Dänen begannen im dreizehnten Jahrhundert mit dem Bau, später fanden Um- und Zubauten statt.«
»Ich würde sie gerne besichtigen«, sagte Newman fröhlich.
Raisa zögerte, und Mauno, der Komplikationen voraussah, erstarrte innerlich. »Ich bin sicher, daß wir das arrangieren können, Mr. Newman«, sagte das Mädchen.
»Es ist ein Teil von Tallinn«, betonte Newman. »Wir befinden uns bereits im Stadtgebiet. Und mir wurde gesagt, ich könne überall hingehen.«
»Es wird uns ein Vergnügen sein, wenn Sie sich Toompea ansehen möchten«, versicherte ihm Raisa noch einmal.
Man fuhr die beiden Männer durch die am besten erhaltenen Teile der Altstadt, durch die Laboratoorium-Straße, zwischen VaksaliStraße und Lai-Straße. Die Häuser zu beiden Seiten sind zweiund dreistöckig und haben steile Giebeldächer. Die Märchenwelt des Hans Christian Andersen scheint in diesem Teil der Stadt wiederauferstanden. Newman schaute aus dem Wagenfenster, bis der Wagen eine scharfe Kurve um einen riesigen alten Steinturm zu ihrer Linken fuhr. Etwas Düsteres und Bedrohliches ging von dem Bauwerk aus.
»Dieser Turm heißt Dicke Margarete«, sagte Raisa, seinem Blick folgend. »Und soeben sind wir unter dem Großen Seetor durchgefahren. Jetzt sind wir in der Pikk-Straße, wo Oberst Karlow uns erwartet.«
Der ZIL hielt. Raisa öffnete die Wagentür und sprang hinaus, die Tür haltend, während Newman und Mauno ausstiegen. Der Engländer hatte eine Art von Platzangst, das Gefühl, als würden die Häuser rings um ihn enger zusammenrücken und ihn einschließen. In der Straße war es unnatürlich still. Kaum Menschen zu sehen, kein einziger Wagen – außer der ZIL-Limousine.
Mauno ging zum Eingang voran, wo ein großer, hagerer Mensch in Zivilkleidung sie erwartete.
»Das ist Hauptmann Rebet«, stellte Mauno vor. »Er spricht nicht Englisch.«
Raisa blickte über die Schulter, sah die beiden Besucher im Gebäude verschwinden. Sie öffnete die rechte Vordertür und setzte sich neben den Fahrersitz. Eine Klappe öffnend, nahm sie ein Mikrophon und sprach einige schnelle russische Sätze.
»Sie gehen hinauf. Newman zeigte bemerkenswertes Interesse an der Festung Toompea. Er möchte dorthin zurück und sie besichtigen …«
»Verstanden.«
In dem kleinen Zimmer, in das man von Karlows Büro aus gelangte und in dem Olaf Prii, Kapitän des Kutters
Saaremaa,
Karlow über sein Gespräch mit Tweed in Harwich berichtet hatte, schaltete Lysenko das Empfangsgerät aus. Toompea …
»Oberst Karlow«, begann Mauno im Zimmer daneben, »das ist Mr. Robert Newman. Bob, das ist Oberst Andrei Karlow, der ausgezeichnet Englisch spricht. Er war einige Zeit in London.«
»Willkommen in Tallinn, Mr. Newman. Sie sind unser Gast.
Bitte, nehmen Sie Platz.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Oberst, möchte ich gleich weiter, um mir Tallinn anzusehen. Wir haben nur zwei Stunden, bis die ›Georg Ots‹ wieder nach Helsinki abfährt. Andererseits hat Raisa die
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