Der Überläufer: Tweed 3
stapelte Kissen in seinem Rücken. Der Mann im weißen Mantel machte einen Schritt vorwärts. Ein Stethoskop baumelte an seinem Hals. Er war braunhaarig, noch jung. Kaum über dreißig.
»Wo zum Teufel bin ich?« fragte Tweed.
»In einer Klinik«, sagte Laila.
»Und warum, zum Teufel?«
»Sie sind von einem Wagen niedergestoßen worden«, antwortete der Mann im weißen Mantel. »Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung. Zum Glück machten Sie einen Schritt zurück, nehme ich an. Der Wagen fuhr schnell. Einige Zentimeter weiter, und Sie wären in einem weit schlimmeren Zustand …«
»Was für einen Tag haben wir?« Tweeds Stimme klang aufgeregt.
»Es passierte vergangene Nacht«, sagte Laila, die sofort den Grund seiner Frage erriet. »Sie haben seither geschlafen.«
»Wie spät …«
Tweed griff nach seiner Armbanduhr auf dem Nachttisch. Himmel! Zehn Uhr! Die
Georg Ots
legte in einer halben Stunde ab. Er warf die Decke zurück, sah, daß er Hose und Hemd anhatte. Er saß am Bettrand, stand auf und zwang sich, trotz des Schwindelgefühls aufrecht zu stehen.
»Ich bin Doktor Vartio«, sagte der Mann im weißen Mantel. »Sie müssen mindestens vierundzwanzig Stunden ruhig im Bett liegenbleiben. «
»Wie bei so vielen Finnen ist Ihr Englisch sehr gut«, bemerkte Tweed, um ihn abzulenken. Er ging zum Schrank, öffnete ihn und fand darin den Rest seiner Kleider.
»Ich war einige Jahre lang am Guy’s Hospital in London tätig. Ich muß Sie bitten, zur Beobachtung hierzubleiben …«
»Laila!« Tweed gab ihr seine Brieftasche. »Bezahlen Sie den Mann für seine Dienste, bitte. Wir müssen uns beeilen. Wir brauchen außerdem dringend ein Taxi. Sie wissen ja, wohin wir müssen.«
»Das ist verrückt«, protestierte der Arzt, während Tweed vor dem Spiegel seine Krawatte band. Rasieren mußte warten. Und plötzlich wurde ihm bewußt, daß er einen Bärenhunger hatte. Auch das würde warten müssen.
Newman kleidete sich in Mauno Sarins Büro ebenfalls an. Die Leibesvisitation war soeben beendet. Man hatte nichts gefunden.
Mauno sah ihm zu und schien voll Reue.
»Es war nötig, Bob. Wie ich Ihnen sagte, ist es Teil unseres Abkommens mit Tallinn. Und wenn wir zurückkommen, vertraue ich auf ihren gesunden Menschenverstand. Finnland ist ein friedliebendes Land. Im Gegensatz zu vielen anderen Teilen der Welt gibt es hier nur wenig Verbrechen. Keine organisierten Banden, keine Erpressersyndikate. Natürlich haben wir gelegentlich Morde – aber nur im häuslichen Bereich. Mann und Frau, oder Freundin. Hier schießt man keine Leute über den Haufen …«
»Ich weiß«, erwiderte Newman. »Wann gehen wir an Bord?«
»Kurz vor der Abfahrt. Hier ist Ihr Visum. Und in meiner Tasche habe ich eine Kopie der schriftlichen Zusicherung freien Geleits.
Das Original liegt in meinem Safe.« Er befühlte seinen Bart. »Sind Sie sicher, daß Sie mitkommen wollen?«
»Ich dachte, wir hätten das alles schon durchgesprochen …«
Die
Georg Ots
ist ein weißer Vierdecker mit einem einzigen, gedrungenen, flachen Schornstein. An Backbord und Steuerbord hängen je fünf Rettungsboote in den Davits. Der Name des Schiffes steht in blauen cyrillischen Lettern nah beim Heck auf dem Schiffsrumpf. Vom Silja-Pier aus betritt man das Schiff über eine mit Glaswänden versehene Gangway, die am Pier auf einer Plattform ruht.
Das Taxi mit Tweed und Laila im Fond hielt vor dem Eingang zum Pier. Es hatte kurz geregnet, aber die Wolken hatten sich inzwischen aufgelöst. Letzte Reste des auf Straßen und Gehsteigen rasch trocknenden Regens wirkten wie Schmutzflecken. Der Himmel war von hellem Blau, die Luft erfrischend, die Sonne schien prächtig.
Tweed bezahlte das Taxi, und der Wagen fuhr weg. Er stand neben Laila, die in die Ferne blickte. Sie schluckte einige Male, ehe sie sprechen konnte.
»O Gott. Wir kommen zu spät …«
Die
Georg Ots
hatte abgelegt, und Tweed schaute dem Heck des Schiffes nach, das langsam zwischen der Halbinsel und einer kleinen Insel hindurchsteuerte. Es passierte die enge Durchfahrt, fuhr weiter, jetzt mit Reisegeschwindigkeit, und nahm Kurs nach Süden in den Finnischen Meerbusen und nach Tallinn.
»Wir wissen nicht mit Bestimmtheit, ob er an Bord ist«, sagte Laila, und die Verzweiflung war ihrer Stimme anzumerken.
»Der ist sehr wohl an Bord.«
»Und wieso wissen Sie das?«
»Er hat mir Alexis’ letzten Brief hinterlassen. Das Original – keine Fotokopie. Wenn ein Mann so etwas tut, dann heißt das
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