Der Überläufer: Tweed 3
übermorgen warten.«
»Ich bin sicher, daß Oberst Karlow etwas für uns arrangiert, um uns morgen heimzubefördern«, sagte Newman sorglos und blickte in eine Seitenstraße. Sie war nicht mehr als ein Gäßchen und wirkte uralt.
»Dann«, fuhr Mauno beharrlich fort, »sollten wir Tallinn allein besichtigen. Ohne Führer. Sie bestanden darauf. Und jetzt bitten Sie Raisa, sich mit uns bei der Festung zu treffen. Sie denken doch nicht daran, mit ihr ins Bett zu gehen, will ich hoffen? Sie wissen, was ihre wirkliche Rolle in diesem …«
»Hören Sie auf zu meckern, Mauno. Ich werde Sie als Dolmetscher brauchen, wenn ich mit jemandem reden will. Ist das in Ordnung?«
»In jedem Reiseführer kann man lesen, daß die Finnen und Esten dieselbe Sprache sprechen. Das ist ein Märchen. Einfach nicht wahr. Die Sprachen ähneln einander – aber es ist für einen Esten leichter, das Finnische zu verstehen, als umgekehrt. Sie haben ein ganz anderes Vokabular. Ich werde mein Bestes tun«, schloß er knapp.
Er verstand Newmans Gemütsumschwung einfach nicht. Und er machte sich Sorgen wegen einer möglichen Beziehung des Engländers zu Raisa. Es gefiel ihm nicht, daß Newman den Zeitplan über den Haufen warf. Er war gereizt und schlecht gelaunt, weil er nichts verstand.
Sie schlenderten durch die Pikk-Straße. Newman blieb kurz stehen, um die Dicke Margarete zu betrachten. Dick, das war sie allerdings, ihr Mauerumfang immens. Sie wirkte wie direkt aus dem Boden gewachsen.
»Muß gut dreißig Meter hoch sein«, bemerkte Newman.
»Fünfundzwanzig«, korrigierte Mauno. »Und ob Sie’s glauben oder nicht: die Mauern sind über fünf Meter dick. Der Turm wurde Anfang des sechzehnten Jahrhunderts als Wehrturm erbaut.«
»Eine äußerst strapazierfähige alte Dame. Mauno, sehen Sie den Mann dort drüben, der in ein Auslagenfenster blickt? Fragen Sie ihn etwas über die Dicke Margarete, das erste, was Ihnen einfällt.«
»Wie Sie meinen.«
Der Mann war klein, stämmig, in den Dreißigern, hatte braune Haare und eine bleiche Haut. Die Hände in den Taschen seines dunklen Mantels, stand er vor einer Bäckerei und starrte hinein.
Newman ging näher an ihn heran, und Mauno begann zu sprechen.
Er hörte Mauno mit dem Mann russisch sprechen. Mauno wandte sich um und rief Newman herbei. Der Mann drehte sich wieder um und setzte die Betrachtung der Ware im Geschäft fort.
»Die Dicke Margarete wurde zwischen 1510 und 1529 erbaut. «
»Fragen Sie ihn, was er von Beruf ist. Sagen Sie ihm, es sei mein Hobby, vom Aussehen der Leute auf ihren Beruf zu schließen.«
Neuerliche russische Konversation. Dieses Mal warf der Mann einen Blick auf Newman, bevor er antwortete. Mauno wandte sich um und sah, daß Newman dicht neben ihm stand.
»Er ist Lehrer an einer hiesigen Schule.«
»Danke …«
Newman spazierte weiter. Sie passierten den Bogen des Großen Seetors, der sich über ihnen spannte. Bald waren sie wieder in der Laboratoorium-Straße mit den alten Häusern zu beiden Seiten, über deren patinierten Ziegelmauern die Giebel in den Himmel ragten. Rechts ging es steil bergan. Mauno zeigte hinauf.
»Das ist der Rannavarava-Hügel.«
»Könnten Sie diese junge Frau fragen, wie sie das Leben hier findet?«
Die Frau war aus einem der Häuser gekommen und trug einen Einkaufskorb, der unter anderen Dingen einen kleinen Wollpullover enthielt. Neugierig sah sie Newman an, als Mauno sie auf Finnisch anredete. Während sie sich unterhielten, schaute Newman nach oben. Ein Mann in Hemdsärmeln schaute aus einem Fenster im ersten Stock eines schiefwinkligen Hauses auf die Straße hinunter.
»Sie sagt, das Leben sei hart, aber sie ist zufrieden«, sagte Mauno.
»Fragen Sie sie, ob sie Kinder hat. Wenn ja, wie viele, und wo sie sind.«
Newman wurde das beengende Gefühl nicht los – ihm war, als schlösse die Stadt ihn ein, was merkwürdig war, denn es waren kaum Menschen unterwegs – zu dieser Tageszeit ebenfalls ein merkwürdiger Umstand.
»Sie sagt, sie hat drei Kinder.« Mauno machte eine Pause und schaute befremdet drein. »Sie sagt, sie sind alle in der Schule. Sie geht das jüngste abholen.«
»Da sehen Sie’s«, bemerkte Newman heiter, als sie auf der Straße in Richtung Toompea weitergingen.
»Was?«
»Jetzt hören Sie doch auf! Der Mann bei der Bäckerei. Sie mußten Russisch mit ihm reden. Ich wette, Sie haben es zuerst mit Finnisch versucht! Na also – ganz wie ich dachte. Und die Frage nach seinem Beruf kam für ihn
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