Der Überläufer: Tweed 3
aber für diese kühle, klinische Tätigkeit. Da war Rebet weit besser geeignet.
»Imatra«, sagte Lysenko noch einmal. »Was zum Teufel macht Tweed da?«
»Ich habe keine Ahnung. Hat Poluschkin es Ihnen nicht gesagt?«
»Ja. Tweed ist mit der Bahn hingefahren. Er hat seine Reisetasche im Hotel gelassen und ist mit dem Taxi direkt zur Grenze gefahren. Dort ist er noch und wartet. Worauf wartet er?«
»Eine merkwürdige Entwicklung der Dinge«, stimmte Karlow ihm bei.
»Merkwürdig? Es ist, verdammt, höchst alarmierend! Haben wir alles falsch gemacht? Wir erwarteten, daß Procane sich mit der Sowjetbotschaft in Helsinki in Verbindung setzt. Nehmen wir an, er hat die Botschaft gemieden? Er muß nervös sein. Will Procane nach Imatra – um dort über die Grenze zu gehen?«
»Möglich«, stimmte Karlow neuerlich bei.
»Das ändert alles.« Lysenko begann im Raum herumzumarschieren. »Sie fahren am besten morgen mit Newman und Sarin nach Helsinki. Für die Überfahrt nehmen wir eines unserer großen Patrouillenboote. Ich werde Ihren Marschbefehl sofort unterzeichnen. Sie übernehmen voll und ganz die Suche nach Procane.«
»Wie Sie befehlen. Und wie erkläre ich das Newman?«
»Das ist leicht. Sagen Sie ihm, Sie erwidern Mauno Sarins lieben Besuch. Newman wird es als normal ansehen, daß wir mit den Finnen guten Kontakt pflegen. Wenn wir alles falsch gemacht haben, kann das ein Desaster werden.«
Die Panik breitet sich aus, dachte Karlow. Der Augenblick der Krise ist endlich gekommen.
»Das ist also Toompea«, sagte Newman zu Raisa, die auf dem Lossi-Platz, genau unterhalb der Kleinen Festung, auf sie gewartet hatte.
Sie hatte sie den Hügel hinaufgeleitet, und jetzt standen sie vor dem Mauerkoloß des riesigen Turmes, der sich an einer der Ecken der viereckigen Festung erhebt. An der Nordwestecke.
»Das ist der Pilsticker-Turm«, erklärte Raisa.
Mauno Sarin stand schweigend neben Raisa, ganz im Bann seiner besorgten Gedanken. Er begriff noch immer nicht, was Newmans Stimmung seit ihrer Ankunft in Estland in so außerordentlicher Weise hatte umschlagen lassen. Newman blickte über die Mauer und hinunter auf eine Parkanlage. Eine Straße führte daran vorbei; sie kam ihm bekannt vor.
»Was ist das für ein Park?« fragte er.
»Das ist der Toom-Park.«
»Und die Straße neben dem Toom-Park?«
»Das ist die Vaksali-Straße.«
»Darf ich ein bißchen allein umhergehen?«
»Natürlich. Gehen Sie bitte, wohin Sie wollen. Wenn Sie den Weg dort gehen – in Richtung zur Südwestecke –, dann sehen Sie den Langen Hermann. Der Turm ist fünfzig Meter hoch, zehn Meter im Durchmesser, und die Wände sind drei Meter dick …«
O Gott, sie redet wie eine Intourist-Reiseführerin, dachte Newman. Langsam schritt er über das Kopfsteinpflaster, jetzt mit düsterer Miene. Hier war es also! Die Stelle, an der Alexis gestorben war.
Deutlich und klar sah er den schrecklichen Film vor sich, den Howard ihm am Crescent Park in London vorgeführt hatte. Alexis, die die Hände hochwarf, als die Scheinwerfer des Wagens sie trafen und näherkamen. Das eigenartige Bauwerk mit den fremdartigen Türmen im Hintergrund. Er wanderte darin herum. Die Kleine Festung.
Er war ziemlich sicher, den Ort entdeckt zu haben, an dem man sie ermordet hatte. Die Vaksali-Straße. An der Längsseite des ToomParks. Die Örtlichkeiten stimmten. Er blieb stehen und schaute zum Langen Hermann empor. Auch eines dieser Ungetüme. Er hörte weibliche Schritte, die sich von hinten näherten, und zwang sich zur Gelassenheit. Mit einem Lächeln drehte er sich um.
»Können wir nach dem Abendessen noch einen Spaziergang machen?« schlug er vor.
»Natürlich«, antwortete Raisa. »Es würde mir ein Vergnügen sein.«
»Alte Festungen interessieren mich. Der Platz hier ist wunderbar.
Ich möchte ihn gern aus einiger Entfernung sehen. Hat man nicht von der Vaksali-Straße einen guten Blick?«
»Ausgezeichnet.« Ihre Augen blickten genau in die seinen. »Und heute nacht haben wir klaren Himmel. Ich habe den Wetterbericht gehört. Nur etwas kühl. Aber der Mond wird scheinen. Das wäre schön …«
»Das würde ich auch gern sehen«, sagte Mauno über ihre Schulter hinweg. »Ich mache immer einen Spaziergang …«
Raisa, mit dem Rücken zu Mauno stehend, zog einen Schmollmund. Was für ein dummer Mensch, sagten ihre Augen, aber sie brachte ein Lächeln zustande, als sie sich umdrehte.
»Sie sind herzlichst eingeladen, Mr. Sarin.«
»In die
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