Der Überläufer: Tweed 3
Pikk-Straße finden wir wohl allein zurück«, schlug der Finne vor.
»Natürlich. Der Wagen wartet noch. Ich fahre mit dem Chauffeur zurück, und wir treffen uns dort. Und dann essen wir im OlympiaHotel zu Abend. Es wird Ihnen gefallen.«
»Verdammt, was spielen Sie für ein Spiel?« wollte Mauno wissen, als sie allein waren. »Dieses Mädchen lockt Sie in eine Falle.«
»Ich bezweifle das«, sagte Newman freundlich. »Sie will wahrscheinlich nur, daß ich Tallinn in bester Erinnerung behalte.«
»Ich glaube, Sie sind verrückt. Solange wir auf estnischem Boden sind, weiche ich keinen Schritt von Ihnen – ob es Ihnen paßt oder nicht. Ich bin für Ihre Sicherheit verantwortlich und habe nicht die Absicht, mir von Ihnen in die Suppe spucken zu lassen – so sagt man doch?«
»Ja, so sagt man«, sagte Newman zustimmend, während sie den Weg zum Lossi-Platz hinuntergingen. Als sie an der Alexander-Newski-Kirche vorbeigingen, bemerkte keiner der beiden Männer die Gestalt, die sie durch die fast geschlossenen Eingangstore beobachtete. Kapitän Olaf Prii vom Kutter
Saaremaa
sah ihnen nach, bis sie außer Sicht waren.
»Karlow«, sagte Lysenko mit unheilvoll ruhiger Stimme, die den Obersten rasch von seinem Schreibtisch hochblicken ließ. »Raisa hat soeben gefunkt, daß Newman nach dem Abendessen einen Spaziergang durch die Vaksali-Straße machen möchte.«
»Kann Zufall sein«, antwortete Karlow rasch.
»Ich glaube nicht an Zufälle. Warum von allen Straßen Tallinns ausgerechnet diese? Sie wissen, was dort passiert ist?«
»Ich erfuhr es im nachhinein. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß die Ermordung von Alexis Bouvet mehr als ein Verbrechen war – es war Stümperei.«
»Was geschehen ist, ist geschehen. Jetzt habe ich zu überlegen, ob es nicht zu gefährlich ist, Newman wieder aus Estland herauszulassen. Außerdem habe ich mich mit dem Problem zu beschäftigen, ob Adam Procane versuchen wird, bei Imatra über die Grenze zu gehen. Haben Sie die Anrufe nach Helsinki erledigt? Wie ist jetzt die Lage jenseits des Wassers?«
»Ein Team ist von Leningrad nach Imatra geflogen worden. Vor fünfzehn Minuten hörte ich von der Botschaft in Helsinki, daß Cord Dillon mit Helene Stilmar noch immer im Hotel ›Kalastajatorppa‹ ist. Stilmar selbst hat die Amerikanische Botschaft nicht verlassen. Keiner hat bis jetzt einen Schritt unternommen …«
»Außer Tweed«, erinnerte Lysenko. »Und bei all diesem Trubel habe ich meine Frau nicht angerufen. Haben Sie Ihre angerufen?«
»Nicht in allerletzter Zeit. Ich war sehr beschäftigt.«
»Wie steht ihr beide zueinander?«
»Sehr gut. Glücklicherweise hat sie, wie Sie ja wissen, eine wichtige Stellung als Biochemikerin, die sie voll beansprucht. Noch besser wäre es, wenn ich nach Moskau zurückversetzt werden könnte.«
»Ihre Pflicht hält Sie im Moment hier fest.« Lysenko wechselte das Thema. »Unmittelbaren Vorrang hat für mich Newman. Wir werden sehen, was er heute abend tut. Dann entscheide ich mich …«
Mauno Sarin kam mit Newman wieder in der Pikk-Straße an. Auf den Schock, der ihn dort erwartete, war er völlig unvorbereitet.
Raisa geleitete sie über die Wendeltreppe hinauf in Karlows Büro, wo der Oberst gerade den Kaktus auf seinem Schreibtisch goß. Er trug den Topf zum Fenster und stellte ihn auf das schmale Fensterbrett.
»Ich glaube, er braucht mehr Licht. Willkommen daheim. Ich darf doch hoffen, daß Sie den Spaziergang genossen haben? Oh, Mauno, Ihr Büro hat angerufen. Sie baten um Ihren Rückruf. Dringend. Ich lasse Sie allein, damit Sie anrufen können. Bitte, benützen Sie meinen Stuhl.«
Newman wanderte hinüber, um sich den Kaktus anzusehen, Karlow verließ das Zimmer, Sarin setzte sich und wählte eine Nummer. Der Finne wußte, das Gespräch würde von Karlows Technikern abgehört und auf Band aufgenommen werden. Ein ganz normaler Vorgang. Bei ihm lief das nicht anders, sooft ein Anruf von jenseits der Grenze kam. Er wurde mit seinem Stellvertreter Karma verbunden.
»Hier Sarin. Ich höre, Sie haben angerufen.«
»Ja. Sie haben mich doch gebeten, Sie über diesen Betrüger, der verschwunden ist, laufend zu informieren«, begann Karma seinen Bericht. »Wir haben ihn bis jetzt nicht ausgeforscht – aber wir glauben, daß er sich in Turku, Imatra oder Vaasa aufhält.«
»Wenn er in Vaasa ist, dann will er nach Schweden. Alarmieren Sie die Küstenwache …«
»Habe ich bereits getan. Es besteht kein Zweifel, daß er die Dokumente
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