Der Überläufer: Tweed 3
gedenkt, um schnell nach Moskau zu gelangen.«
»Sie glauben, Procane könnte auch eine Frau sein?«
»Ich bin versucht, in diese Richtung zu denken, weil der Vorname Adam so betont genannt wird, wann immer von Procane die Rede ist«, erwiderte Tweed und ließ es dabei bewenden.
»Über die Fluchtroute habe ich auf dem Flug herüber viel nachgedacht. Mein Tip wäre Wien. Niemand hat bisher diese Route gewählt.« Dillon machte eine Pause. »Nicht einmal jemand von euren Leuten.«
»Wir werden daran denken.«
»Noch etwas, bevor ich in mein Hotel gehe. Wenn diese Sache Kreise zieht, kann es ein, daß der Aasgeier auf Ihren Schultern landet. Der Präsident wird noch abwarten wollen, was sich ereignet. Gehört zu seiner normalen Methode.«
»Der Aasgeier?« fragte Tweed unschuldig.
»Sie wissen genau, wen ich meine. Der mächtigste Mann in Washington neben Reagan. Sein bevorzugter Sicherheitsberater.
Stilmar.«
»Sie meinen, er könnte nach London fliegen?«
Stilmar. Der legendenumwobene Präsidentenberater. Der Mann, der stets nur mit seinem Zunamen erwähnt wurde. Tweed verbarg seine Überraschung über Dillons Ankündigung. Stilmar hatte in den vier Jahren von Reagans Präsidentschaft nie die Staaten verlassen.
»Sind Sie sicher, daß das geschehen könnte?« forschte Tweed.
»Bei der letzten Sitzung, an der ich teilnahm, bevor ich abflog, wurde es ernsthaft erwogen. Der Jammer ist, daß Stilmar brillant ist, sofern es um militärische Probleme geht. Er ist Hauptinitiator des Star-Wars-Projekts. In Sachen Spionageabwehr ist sein Wissen einfach lausig. Im Grunde ist er ein Naturwissenschaftler. Ich dachte bloß, ich warne Sie. Und ich habe vor, morgen nach Paris zu fliegen und persönlich der Information nachzugehen, die von der Botschaft kam. Ich fliege hin und gleich wieder zurück. Sehe Sie wieder, Tweed. Und – ich wohne im ›Berkeley‹.«
»Nicht im ›Hilton‹?«
»Zu augenfällig.«
»Was soll das alles?« fragte Monica, als sie allein waren. »Übrigens – was Manieren betrifft, kriegt er von mir nicht die besten Noten.«
»Unterschätzen Sie Dillon nicht«, warnte Tweed. »Er verliert nicht viel Worte – und er ist auch äußerst gerissen. Ich wünsche, daß er von den besten Leuten, die wir haben, beschattet wird. Den ganzen Weg bis Paris. Sobald die Beschatter wissen, welche Maschine er nimmt, haben sie unverzüglich anzurufen. Sie rufen dann Loriot in Paris an. Er übernimmt Dillon, bis er wieder ins Flugzeug nach London steigt.«
»Was beunruhigt Sie an diesem Gespräch?«
»Der Hinweis auf Wien. Kein Wort von Skandinavien. Wien ist der von Skandinavien am weitesten entfernte Punkt im Süden, von dem aus man leicht zum Sowjetblock überlaufen kann.«
»Sie denken, er will Ihre Aufmerksamkeit vom Norden ablenken?«
»Ich denke gar nichts. Ich nehme einfach nichts als gegeben hin.«
Eine halbe Stunde später, es war 8 Uhr 15 abends, kam der Anruf von Fairweather, dem leitenden Zolloffizier in Harwich. Der estnische Fischkutter
Saaremaa
war soeben wegen dringender Reparaturen im Maschinenraum ins Dock gegangen.
»Ich fahre nach Harwich«, sagte Tweed, als er den Hörer auflegte.
Nichts ist deprimierender als eine Bahnfahrt allein und am Abend.
Tweed saß allein in seinem Erster-Klasse-Abteil, als der Zug sich Harwich näherte. Er starrte durchs Fenster hinaus und vertiefte sich dann wieder in die Notizen, die er sich während seines Telefonats mit Laila Sarin gemacht hatte.
Alexis: fragt in der Amerikanischen Botschaft nach Procane. Dort unbekannt. Morde an GRU-Offizieren – erwürgt. Estland? Die Archipel. Turku? Schweden?
Newman: Adam Procane. Hat nie was von ihm gehört (sagt er).
Die Archipel (wieder). Estnische Schiffahrtslinie.
Tweed versuchte, das, was Alexis und Newman unabhängig voneinander gewußt hatten, als zusammenhängendes Muster zu sehen. Es gelang ihm nicht. Die erwähnten Umstände hatten zu sehr Zufallscharakter. Mit Ausnahme von zweien: die Inseln und Estland.
Er schob sein Notizbuch in die Tasche, lehnte den Kopf gegen das kleine Kissen, schloß die Augen und dachte daran, wie er Kapitän Olaf Prii von der
Saaremaa
zum erstenmal getroffen hatte.
Begonnen hatte es mit einer zufälligen Begegnung vor zwei Jahren in Helsinki. Im Finnischen Meerbusen hatte es einen ganz großen Sturm gegeben. Die
Saaremaa
hatte im Süd-Hafen von Helsinki Schutz gesucht. Und Prii hatte die einmalige Gelegenheit ergriffen.
Er ging an Land und suchte die Britische
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