Der Überläufer: Tweed 3
Er tötete eine französische Journalistin, die dumm genug war, nach Tallinn zu kommen. Sie stahl sich aus der Intourist-Reisegruppe davon und wurde geschnappt. Er ließ ihre Ermordung filmen.«
»Sieht ganz nach einem Psychopathen aus«, kommentierte Tweed in beiläufigem Ton. »Darf ich fragen, wie Sie das alles herausbekommen haben?«
»Der Untergrund ist überall. Ein Sechzehnjähriger hat den Vorfall hinter einer Hecke beobachtet. Poluschkin lenkte den Tschaika, der die arme Frau überfuhr. Sie stellten sie mitten auf die Straße wie vor ein Erschießungskommando. Wir haben gehört, daß Oberst Karlow wütend war, als er von dem Mord erfuhr – um so mehr, als Poluschkin nominell sein Untergebener ist.«
»Nominell?«
»Er ist Lysenkos persönlicher Schnüffler in Tallinn. So sind die Russen – keiner traut dem anderen. Immer ist da einer, der den anderen überwacht.«
Tweed schaute auf das Polaroidfoto von Oleg Poluschkin. Kurz, feist, in GRU-Uniform, mit Doppelkinn. Man hatte das Gefühl, er werde jeden Augenblick aus den Nähten seines enggegürteten Uniformrocks platzen. Ein unangenehmer Zeitgenosse.
»Darf ich diese Bilder behalten?« bat Tweed.
»Deshalb habe ich sie mitgebracht. Den KGB gibt es auch in Tallinn, aber die Nachforschungen im Fall dieser geheimnisvollen Morde leitet Oberst Karlow – wahrscheinlich, weil GRU-Offiziere die Opfer sind. Der Haken bei der Sache ist, daß Moskau den Untergrund für die Morde verantwortlich macht, aber ich kann Ihnen versichern, daß er nichts damit zu tun hat. Es ist sehr mysteriös und zugleich gefährlich.«
»Haben Sie von den Gerüchten gehört, daß eine bedeutende Persönlichkeit in Estland eintreffen soll?« wollte Tweed wissen.
»Ja. Mauno Sarin von der finnischen Schutzpolizei. Wenn die Lage angespannt ist, versucht Sarin die Dinge zu beruhigen.«
»Kommt der GRU jemals nach Helsinki? Oberst Karlow etwa? Er scheint gegenwärtig in Tallinn das Kommando zu führen.«
»Sehr selten. Moskau muß dazu die Erlaubnis erteilen. Karlow dürfte ohne Lysenkos Einverständnis nicht nach Helsinki fahren.
Ja, sogar Lysenko, vermute ich, würde für einen solchen Besuch nötig haben, daß Moskau ihn absegnet.«
»Und können Menschen aus dem Westen auf diesen Touristenschiffen Tallinn besuchen?«
»Es gibt nur ein Schiff – die ›Georg Ots‹. Ja, westliche Touristen sind willkommen, vorausgesetzt, sie haben ein Visum. Sehen Sie, die Russen wollen Estland als Modellrepublik präsentieren, als eine Art Schaustück, wenn Sie so wollen. Sie organisieren zweistündige Rundfahrten durch Tallinn – aber während dieser zwei Stunden weichen die Intourist-Führer den Besuchern keinen Schritt von der Seite. Sie denken doch hoffentlich nicht daran, Tallinn zu besuchen? Davon würde ich sehr abraten.«
Tweed lächelte kühl. »Sie werden mich wahrscheinlich in einer Tausend-Meilen-Zone rund um Finnland nicht zu Gesicht bekommen. Mein Geschäft hält mich in London fest.«
»Dann kennen also jetzt die Hauptfiguren des Gegners in Tallinn im Moment. Karlow, Lysenko und Poluschkin, Lysenkos Lakaien …«
Sie unterhielten sich eine weitere halbe Stunde, und dann war Tweed der Meinung, Prii sei lange genug von seiner Mannschaft weggewesen. Er verständigte Fairweather, dankte ihm für seine Mithilfe und bat ihn, Prii sicher ins
Cold Horse
zurückzugeleiten.
»Etwas müssen Sie ihm noch sagen«, sagte Fairweather rasch.
»Vielleicht können Sie es ihm dolmetschen. Wenn er zurückkommt, schlage ich vor, daß er sich über die rigorose Befragung beschwert, der er ausgesetzt wurde. Ich hätte mich mit seiner Erklärung bezüglich des Maschinenschadens nicht zufriedengegeben. Auf dem Rückweg werden wir an Bord des Schiffes gehen, und ich werde mich im Maschinenraum umsehen. Dann erst gebe ich mich zufrieden, aber er muß zum frühestmöglichen Zeitpunkt auslaufen. Ich kann sagen, ich hätte da einen Freund von der Norwich-Universität gefunden, der ausgezeichnet Deutsch spricht und als Dolmetscher füngierte. Okay?«
»Sie haben Ihren Beruf verfehlt«, bemerkte Tweed und beeilte sich, Prii zu übersetzen, was Fairweather gesagt hatte.
Tweed blieb noch einige Minuten, nachdem die beiden Männer gegangen waren, und hielt stenografisch auf seinem Notizblock fest, was Prii ihm gesagt hatte. Er war überzeugt, daß Prii den Zweck gewisser Fragen nicht durchschaut hatte.
Das Gespräch hatte Tweed nicht beruhigt. Eher im Gegenteil. Er dachte an Newman, der sich auf sich
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