Der Überläufer: Tweed 3
verschwand in einem großen Kaufhaus – »Stockmann«. Ungefähr der einzige Name in Helsinki, den Newman aussprechen konnte.
Eine elegant gekleidete Brünette mit makellosem Make-up begrüßte ihn im großen Intourist-Büro. Er nahm an, daß sie Russin war, aber sie sprach gut Englisch. Niemand sonst war außer ihm da.
»Soviel ich weiß, kann man mit dem Schiff einen Tagesausflug nach Estland unternehmen«, begann er. »Haben Sie irgendwelche Prospekte?«
»Ja, Sir. Sie finden hierin alle Einzelheiten.«
Ihre dunklen Augen sahen ihn prüfend an, als versuche sie sich zu erinnern, wo sie ihn schon einmal gesehen habe. Sie reichte ihm einen Farbprospekt mit dem Bild der
Georg Ots
auf dem Titelblatt, einer Dreiviertelansicht von achtern aus.
Der Werbetext auf dem Titelblatt lautete in deutscher Sprache:
»Herrliche Gelegenheit – günstiger Preis! Helsinki-Tallinn 210 Finnmark. Nützen Sie die Gelegenheit und verbinden Sie mit Ihrem Aufenthalt in Helsinki eine Tagesfahrt zur alten Hansestadt Tallinn.«
Er schlug den Prospekt auf und studierte den Fahrplan. Das Schiff fuhr um 10 Uhr 30 ab und kehrte um 22 Uhr 30 nach Helsinki zurück. Blieben ihm genau zwei Stunden an Land in Tallinn.
Höchst generös. Er hob den Blick zu der jungen Dame, die das dunkle Kleid über ihren wohlgeformten Hüften glättete. Ihre Haltung änderte sich abrupt, als er seine nächste Frage stellte.
»Haben Sie einen Stadtplan von Tallinn?«
»Wir haben keine Stadtpläne. Keine Photos. Sie haben den Prospekt.«
Sie verhielt sich mit einem Mal neutral, fast feindselig. Newman begriff, was hier unmittelbar vor sich ging. Die Sowjets hatten, was Landkarten ihres Landes anging, einen regelrechten Verfolgungswahn. Sie dachte wahrscheinlich, er sein ein Spion. Und ebenso sicher war sie ein Mitglied des KGB. Wem sonst erlaubte man, in den Westen zu gehen? Sie würde auch einen perfekten Lockvogel abgeben.
»Vielen Dank«, sagte er. »Sie haben mir sehr geholfen.«
Den Prospekt in die Tasche steckend, ging er hinaus und wandte sich nach links, die Esplanade entlang in Richtung
Marski.
In der Gegenrichtung führte die Straße direkt zum Süd-Hafen. Das konnte warten. Drüben auf der anderen Straßenseite entdeckte er die lange Ladenfront von »Akateeminen«, der größten Buchhandlung in ganz Skandinavien.
Die moderne, geräumige Bar des
Marski
liegt im Untergeschoß, und man hat da das Gefühl, fern von allem Weltgetriebe zu sein.
Während er an einem Tisch, von dem aus man zum Eingang sehen konnte, seinen Kaffee trank, dachte er über Laila Sarin nach.
Seit er in Heathrow die Maschine bestiegen hatte, waren Wachsamkeit und Mißtrauen seine ständigen Begleiter gewesen. Eine Einstellung, die alle Auslandskorrespondenten auszeichnet. Glaube nichts von dem, was man dir sagt, bevor du nicht unbeeinflußt die Fakten selbst geprüft hast.
Warum hatte Tweed, kaum daß er in Vantaa auftauchte, Laila auf ihn angesetzt? Tweed war nicht der Mann, aus Sympathie Personal zu verschwenden. Er mußte ein Problem zu bearbeiten haben, bei dem Helsinki eine Rolle spielte. Welches Problem? Ebenso wie Howard kannte sicherlich auch Tweed den grausigen Film über die Ermordung von Alexis. Bestand ein Zusammenhang zwischen Alexis’ Reise nach Finnland und Tweeds Problem?
Newman war mit Absicht beim Frühstück Laila gegenüber freundlich und offensichtlich auch ehrlich gewesen. Damit Laila ihre Bewacherrolle aufgab, mußte er zeigen, daß er ihr nach seiner Flucht ganz offensichtlich Vertrauen schenkte. Sie in Sicherheit wiegen! O Gott! Im Augenblick traute er seinem eigenen Schatten nicht. An diesem Punkt seiner Überlegungen kam Laila; sie trug einen Plastikbeutel mit der Aufschrift »Stockmann«.
»Haben Sie bekommen, was Sie wollten?« fragte sie fröhlich. »Ja, Kaffee hätte ich gern. Nein, nichts zu essen – ich achte auf meine Figur.«
»Genau das tun viele Männer, nehme ich an.«
»Himmel, der Mann zeigt menschliche Regungen.«
»Intourist ist eine reiche Quelle von Informationen. Ein riesiges Büro, und ich bekomme das hier.«
Er gab ihr den einzelnen Prospekt und bestellte für sie Kaffee, während sie die Broschüre durchsah. Sie las alles genau durch und zupfte bei dieser konzentrierten Beschäftigung an ihren dicken Brauen.
»Sie sehen«, führte sie aus, »Sie brauchen tatsächlich ein Touristenvisum für Tallinn. Und sie müssen spätestens zwei Wochen, bevor Sie hinüberfahren wollen, darum ansuchen. Und man will eine Fotokopie
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