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Der Überlebende: Roman (German Edition)

Der Überlebende: Roman (German Edition)

Titel: Der Überlebende: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst-Wilhelm Händler
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Nachbaruniversen gleichsam an unserem Universum ziehen. Wo der Effekt besonders stark ist, wurde die Galaxienbildung unterdrückt, die Folge ist ein gigantischer Leerraum. Aus geometrischen Gründen sollte es noch ein zweites Superloch geben, am nördlichen Himmel.

    Plötzlich stand ein blaustrahlender Berg vor uns! Aus Nebeln aufgetaucht, die uns jegliche Orientierung genommen hatten. Dieser Glanz, dieses Anblitzen! Ich dachte, es ist in die Wirklichkeit geplatzt, das Meer mit dem Himmelsstück, und gleich wieder weg, aber es ließ nicht an sich rütteln. Nicht die Spur einer Absicht, das Gleißen durch ruckhaftes Entweichen oder einen entschwebenden Auftritt zu beenden! Wie hatte das Meer – der Gedanke an ein Brausen oder Knattern lag ihm unendlich fern, ins Weite verstreute einsame Reihen von weißen Schaumkrönchen deuteten die Möglichkeit von Wellen nur an – es fertiggebracht, das Himmelsstück in Besitz zu nehmen? Stolz und befriedigt über seine Eroberung räkelte es sich und wollte der Sonne hinter dem Nebel zurufen: Na, altes Mädchen, jetzt staunst du!
    Peters Augen waren dunkle Leerstellen für die Spiegelbilder verlorengegangener Augenblicke. Sein Herz hatte unruhig geschlagen während der Fahrt. Ich versuchte, ihn zu ermutigen: Wenn die entschwundenen Augenblicke zu ihm zurückkehren würden – er musste den Befehlen, die sie erteilten, nicht Folge leisten. Seine Erinnerung an die Zeit ohne Vergangenheit konnte jede Zukunft, die unbedingt eine bestimmte Vergangenheit etablieren wollte, nach Geschmack und Laune über den Haufen werfen.
    Im Internet war ich auf einen Bericht über einen Arzt gestoßen, der Patienten mit verbotenen Drogen behandelt hatte, um verlorengegangene Erinnerungen wiederherzustellen. Dem Navigationssystem nach hatten wir den vereinbarten Treffpunkt erreicht, eine Fabrikhalle im Schatten einer Brücke, die über einen Meeresarm der Ostsee führte. Die rote Eingangstür der nach der Wende errichteten Halle war verschlossen, wir umrundeten das Gebäude, die Tür neben dem herabgelassenen Rolltor auf der Laderampe war ebenfalls verriegelt. Wir ließen den Wagen stehen und gingen zu Fuß hoch zur Straße und auf die Brücke, um den Berg aus Meer und Himmel weiter zu bestaunen.
    Was für ein Flimmern und Flirren auf den Graten des Bergmassivs! Wir mussten die Hände über die Augen halten, um nicht geblendet zu werden. Wie weit reichte der Berg in das Universum hinein? Woher kam der Lichtstaub? War er ein ernstgemeinter Hinweis oder nur die theatermäßige Vorspiegelung von etwas Geheimnisvollem für uns Erdlinge? Unbeteiligt wischten die Autos auf der Brücke dahin, ein solitärer Fußgänger telefonierte mit sich selbst. Nahmen nur wir diese zugleich ragende und klaffende Unendlichkeit wahr? Waren wir alle vielleicht in Wirklichkeit von Nebelmassen umgeben, die sich gegenseitig um die Erde scheuchten? Träumten nur Peter und ich, und würden wir gleich wieder aufwachen aus unserem Traum und Allesvergessenhaben? Das konnte doch kein Traum sein, dieses Angezogenwerden der Blicke von dem Massiv aus Licht, das überall im Universum sichtbar sein musste!
    Pausierte die Unruhe, die wir mitgebracht hatten, oder war das eine Täuschung, schwoll sie vielmehr an bis zum gesamten Horizont ringsum? Kam der Arzt mit den unorthodoxen Gedächtnisauffrischungsmethoden absichtsvoll zu spät, damit wir uns diesem Anblick überließen? War die Wettersingularität gar keine, sondern eine Gewohnheit der Fabrikhalle, in der er ordinierte? Sollte die Herrlichkeit des Fernblicks die Kräfte des Patienten gezielt erschöpfen?
    Ich schloss die Augen. Wenn ich sie öffnete, würde entweder das Gebirge noch großartiger sein oder die monströse Landschaft würde sich schließlich doch als kraftvolle Einbildung erweisen. Aber die Göttlichkeit des Augenscheins hatte auch mich weit mehr ausgelaugt, als ich es für möglich gehalten hatte. Meine Wahrnehmung war an die Singularität angedockt, ich hatte den Bodenkontakt verloren, mir wurde schwindelig, ich musste mich am Brückengeländer festhalten.
    Als Kind war ich in der Lage gewesen, Autos allein am Klang ihrer Motoren zu erkennen. Ich habe das Talent nicht gepflegt, die Motorgeräusche der jetzigen Modelle kann ich nicht auseinanderhalten. Der Wagen, der langsam heranfuhr und neben uns hielt, musste ein Porsche 911 aus den fünfziger Jahren sein. Die prekäre Situation meines vestibulären Systems verdrängend, öffnete ich die Augen, ich lag richtig.

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