Der Überlebende: Roman (German Edition)
Der rote Porsche war ziemlich derangiert, eine Beule an der Fahrertür rostete dekorativ, die Motorhaube ließ sich nicht mehr richtig schließen, quer durch das Glas des linken vorderen Scheinwerfers zog sich ein Sprung, die verchromten Teile waren stumpf und zerkratzt. Der ältere, luftgetrocknete Mann, der der Rarität entstieg und erst Peter und dann mir stumm die Hände schüttelte, war der Reiseführer auf der Zeitreise. Bei seiner Ordination angekommen, hatte er unser leeres Fahrzeug gesehen und daraus geschlossen, dass es sich bei den beiden Gestalten auf der Brücke um die Insassen handeln musste.
In der Mitte der Fabrikhalle lag auf einer hohen, mit einem roten samtartigen Stoff überzogenen Liege, von einer OP-Leuchte angestrahlt, eine junge Frau in einem weißen Arztkittel. Als wir eintraten, sprang sie von der Liege herunter und rannte in eine Ecke der sonst dunklen Halle. Sie war barfuß.
Der Doktor führte uns in die Richtung, in die seine Assistentin entflohen war. Mehrere Lavalampen gingen an, sie leuchteten eine Sitzecke mit zerschlissenen Sofas aus, die von uralten Buchregalen mit senkrecht und waagerecht gestapelten medizinischen Fachbüchern eingefriedet war. Bücherstapel auf dem Boden versahen Dienste als Beistelltische. Auf dem größten Sofa saß mit artig zusammengepressten Knien die Assistentin, sie tat so, als würde sie im Licht der dunkelgrünen Lavalampe hinter ihr das Buch in ihrem Schoß lesen.
Nachdem der Doktor uns geheißen hatte, Platz zu nehmen, schlurfte er zu einer Küchenzeile, die unmotiviert neben einem Bücherregal stand. Er entnahm dem Kühlschrank ein Hähnchen und steckte es in den Mikrowellenherd. Das fertige Hähnchen fixierte er mit einem riesigen Spieß und zerteilte es mit einem noch größeren Messer. Auf schlabberigen Papptellern bot er uns die Stücke an, wir trauten uns nicht abzulehnen. Er reichte Plastikbesteck nach, das schon beim ersten Benutzungsversuch zersprang. Uns blieb nichts anderes übrig, als mit den Fingern zu essen. Der Hausherr nagte seine Keule vergleichsweise elegant ab. Die Helferin hatte nur Stücke ohne Knochen abbekommen, sie hielt den Teller vor den Mund und stopfte das Fleisch hinein. Sie aß so schnell wie ein Hund, der nur überlebt hatte, weil es ihm gelungen war, mehr und schneller als die anderen Welpen von dem knappen und umkämpften Fressen hinunterzuschlingen.
»Ich habe Sie erst am Samstag erwartet.«
Der Doktor blickte auf seine Uhr. »Aber es ist ja Samstag –«
Seine Assistentin hing an seinen Lippen.
»Ich habe meine Praxis noch nicht lange hier …«
Er machte eine fahrige Geste mit der Hand.
»Ich kann Ihnen nichts versprechen.«
Er räusperte sich und blickte zu seiner Assistentin hin, die begab sich in die Mitte der Halle. Erst entfernte sie den roten Überzug von der Liege, dann widmete sie sich der Bevölkerung von medizinischen Geräten um die auf vier schwarzglänzenden Kunststoffsäulen montierte Plexiglasplatte herum. Sie schaltete Bildschirme ein, sortierte Elektroden, zog Spritzen auf und legte sie auf einem Instrumententisch bereit. Dabei hantierte sie mehr oder weniger im Dunkeln, erst zum Schluss schaltete sie die Hallenbeleuchtung ein, die sich in dem glatten Industrieboden unangenehm spiegelte. Der wies keine Gebrauchsspuren auf, seit ihrer Fertigstellung war die Halle offensichtlich niemals benutzt worden.
»Es gibt keine Zeit.«
Die Assistentin hatte ihre Verrichtungen beendet und setzte sich auf die Liege. Ihr Kittel war hochgerutscht, schon vorher hatte sich der Verdacht aufgedrängt, dass sie außer dem Kittel nichts weiter anhatte.
»Die Weltlinien fangen nirgendwo an und hören nirgendwo auf, sie überschneiden sich nicht. Wir können in eine beliebige Region der Vergangenheit oder der Zukunft reisen und von dort auch wieder zurückkehren, genauso wie wir eine Erdgegend aufsuchen. Wir müssen nur eine genügend große Kurve machen. Die Zeit läuft kreisförmig in sich zurück, eine Reise im Raum ist zugleich eine Reise in die Zukunft oder die Vergangenheit.«
Der Doktor leierte seine Sätze provozierend herunter – wollte er deren Inhalt oder sich selbst karikieren?
»Die Zeit verstreicht nicht. Man kann immer in die Vergangenheit zurückgehen, sie ist immer da.«
Er erhob sich und kehrte mit einem Pappbecher Kartoffelsalat von der Küchenzeile zurück. Obwohl er den Mund voll hatte, sprach er deutlicher als vorher.
»Die Zeit ist eine Illusion. Es ist nicht sinnvoll zu fragen,
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