Der Überlebende: Roman (German Edition)
ausdrücklich betont wurde, es sei nicht nötig, sich dafür vor Ort zu begeben. Ich hatte Burgi und Sondra gesandt.
Der Hauptsitz von D’Wolf Japan ist ein besonders hässliches Entlein unter den Wolkenkratzern Tokios. Die Geschossdecken sind einfallslos an den tragenden Säulen aufgereiht und lieblos nach außen verglast. In dem ganzen Gebäude gibt es nicht eine einzige größere massive Wand, die Räume sind lediglich durch Glasscheiben abgeteilt. Überall herrscht drangvolle Enge, in den Empfangsbereichen kann man sich vor dem Tresen gerade umdrehen, in den Besprechungsräumen muss man die Beine unter die Tischplatten zwängen, weil man die Stühle nicht weit genug nach hinten rücken kann. Die Leute arbeiten an kleinsten Schreibtischen, zwei, die sich gegenübersitzen, können nicht gleichzeitig telefonieren. Die meisten versuchen, sich durch Akten- und Papierstapel abzuschirmen, es ist rätselhaft, wie sie auf der verbleibenden Arbeitsfläche überhaupt noch hantieren können.
Die Japaner hatten die Idee des Total-Recall-Systems begeistert aufgegriffen. Die Kameras sind nicht etwa schamhaft in Bildschirmen oder anderen Einrichtungselementen integriert, sondern offen sichtbar an der Decke angebracht. Mit Ausnahme der Toiletten existiert kein Ort in dem gesamten Wolkenkratzer, der nicht überwacht wird, selbst in dem nach europäischen Maßstäben lächerlich kleinen Büro des CEO ist eine Kamera vor dem Schreibtisch montiert. Das Büro war allerdings verwaist, nach dem Freitod des alten Chefs hatte sich der binnen vierundzwanzig Stunden ernannte neue Chef geweigert, das Büro seines Vorgängers zu beziehen, er dachte wohl, es bringe Unglück. Man hatte das alte Chefbüro völlig leergeräumt, weder auf dem Schreibtisch noch in dem offenen Regal war auch nur ein einziger Gegenstand übrig geblieben. In der Mitte des Schreibtisches stand die gleiche Fotografie in der gleichen Größe mit dem gleichen Rahmen und dem gleichen Trauerflor, die wir schon bei der Begräbniszeremonie gesehen hatten. Den Besuchern, die nicht mehr kamen, der Kamera zugewandt.
Ist es das, was von einem Chef übrig bleibt? Sein Bild mit schwarzem Band? Auf seinem leeren Schreibtisch in seinem leeren Büro? Nur wenn er mitten im Dienst aus dem Leben scheidet. Wer abwartet, bis er pensioniert ist, bekommt kein Trauerbild in der Firma und schon gar kein leeres Büro.
Burgi und Sondra saßen sich in einem kleinen Besprechungsraum Stunden gegenüber, ohne ein Wort zu wechseln. Auf ihren Bildschirmen holten sie sich Informationen über die Positionen, die sie prüften, und machten sich handschriftliche Notizen. Burgi schrieb häufig und viel, Sondra hielt nur Stichworte fest.
An dem Wolkenkratzer waren auch Außenkameras angebracht. Er war unmittelbar an einem Kanal gebaut, auf dessen anderer Seite eine Bahnlinie verlief, eine zweite Bahnlinie führte auf einer Brücke schräg über den Kanal in einen Tunnel unter der ersten. Flussaufwärts überspannte eine Straßenbrücke schräg, aber in die entgegengesetzte Richtung zeigend, den Kanal und die obere Bahnlinie. Die Eisenbahnbrücke der unteren Bahnlinie war leicht nach oben, die Straßenbrücke leicht nach unten geneigt, als wollten sich die Eisenbahnlinie und die Straße hinter den Hochhäusern jenseits des Kanals treffen.
Vor dem Gebäude fand ein Fotoshooting statt, rote Teppiche waren so ausgelegt, dass sie japanische Schriftzeichen ergaben, die Treppe war mit weißen Rosen bestreut, vier Models posierten in historischen Gewändern. Mitarbeiter und Besucher durften den Haupteingang nicht benutzen, sondern mussten sich durch einen schmalen Nebeneingang zwängen. Peter fand heraus, das Fotoshooting war Teil einer Kampagne für D’Wolf Japan. Als wir auf die Models zoomten, stellten wir fest, es gab nur eine Japanerin – das Model mit dem roten Regenschirm war eine Blondine, dasjenige mit der Zigarettenspitze eine dunkelhaarige südliche Schönheit, das Model im Hintergrund eine Schwarze.
Fast hätten wir nicht mitbekommen, wie die Schweigefolter, die sich Burgi und Sondra auferlegt hatten, ein jähes Ende fand. Ein sehr junger und sehr gutaussehender Japaner in einem stark auf Taille geschnittenen Anzug, der ihn wohl größer machen sollte, forderte die beiden im Kasernenhofton auf, ihm zu folgen. Peter hatte bei der Schaltung der Kamerabilder Schwierigkeiten, sich in dem Gebäude zu orientieren. Wir fanden die beiden erst wieder, als sie in dem völlig überfüllten
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