Der Überlebende: Roman (German Edition)
Auftreten vermuten ließ. Er machte keine Anstalten, Platz zu nehmen. Routiniert überreichte er seine Visitenkarte. Für das Weitere fehlte ihm die Übung. Mit der linken Hand presste er die Aktentasche gegen seinen Körper, während er sie mit der rechten öffnete und einen schmalen Ordner herauszog, fast wäre ihm dabei die Aktentasche heruntergefallen. Seine Aktentasche war genauso schmal wie meine. Schuldbewusst den Kopf einziehend, wandte er sich um und blickte durch die Glasscheibe hindurch zum Empfangstresen, in Sondras Richtung. Bei dem Bemühen, das Entgleiten der Aktentasche zu verhindern, waren ihm die für einen älteren Japaner ungewöhnlich langen Haare ins Gesicht gefallen. Er machte ein paar lächerliche Bewegungen mit dem Kopf, aber die Haare hatten sich regelrecht zwischen Augenbrauen und Brille verklemmt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Aktentasche doch fahrenzulassen, immerhin gelang es ihm, ihren Weg mit seinem Oberschenkel so zu beeinflussen, dass sie auf dem Stuhl neben ihm landete. Mit der freien Hand strich er sich die Haare aus dem Gesicht, in seiner Nervosität verrückte er dabei die Brille, die ihm beinahe ebenfalls herabgefallen wäre. Burgi verschränkte die Arme vor dem Körper, diese Geste der Selbstsicherheit stand im Gegensatz zu ihrem erkennbar unsicheren Blick.
Ganz langsam hob der Japaner die rechte Hand mit dem Ordner. Sein Arm zitterte vehement. Es war, als ob er eine Pistole in der Hand hielte und gegen seinen Willen gezwungen wurde, auf jemanden zu zielen. Er murmelte etwas auf Japanisch, es wirkte wie eine Entschuldigung, dabei blickte er an Burgi vorbei nach draußen in den jetzt stärkeren Regen.
Sondra verfolgte, dass der Japaner bei Burgi keine Fortschritte machte, mit einer ungeduldigen Geste drehte sie sich um und gab dem Mädchen hinter dem Tresen eine Anweisung. Unmittelbar darauf war der Klang eines Mobiltelefons zu hören, hastig fasste sich der Japaner an eine Tasche seines Jacketts. Jedoch nahm er das Telefon nicht heraus, er wusste, wer ihn anrief.
Der Japaner stolperte vorwärts, mit der einen Hand hielt er sich an der Tischkante fest, mit der anderen stieß er Burgi den Aktenordner vor die Brust. Eine peinliche Szene, denn er berührte mit dem Ordner durch ihre Bluse hindurch ihre Brüste. In scharfem Ton fragte sie ihn, was das solle. Er warf den Ordner auf den Tisch, nahm seine sehr starke Brille ab – ohne sie war er wohl fast blind –, rieb sich die Augen und begann zu erklären. Sein Englisch war gut, aber er machte ständig mitten im Satz Pause, wie um ein Schluchzen zu unterdrücken.
Der Ordner enthielt einen Auszug aus dem Gutachten, das D’Wolf seinerzeit anlässlich des Kaufs von Toji angefertigt hatte: Burgis Beitrag. Sie hatte, Peter wusste davon nichts, eine Stellungnahme zum Qualitätswesen von Toji abgegeben, das sie als vorbildlich einstufte. Die neuen Fabriken hatten Qualitätsprobleme, die einfach nicht zu beheben waren. Der Japaner keuchte, er solle ihr sagen, wenn der Deal mit dem Finanzinvestor scheitere, werde sie persönlich zur Verantwortung gezogen. Er wiederholte mehrfach, erbärmlich stotternd, das Wort Responsibility.
Burgi erbat sich Bedenkzeit, sie wollte den Japaner in einer Stunde im selben Besprechungsraum wieder treffen. Sofort rief er Sondra an, doch konnten wir ihre Reaktion nicht verfolgen – als sie das Telefon ans Ohr führte, hüllte sie auf dem Bildschirm dichter Nebel ein.
Darauf spielte Peter ein Videospiel. Die Aufgabe war, die Figur Burgi nicht aus den Augen zu verlieren. Ziellos irrte sie durch das Bürogebäude. Niemand nahm daran Anstoß, dass sie die immer gleich überfüllten und vollgepackten Großraumbüros durchwanderte. Auf allen Stockwerken gab es zwischen den Eingängen zu den Damen- und den Herrentoiletten eine nicht beschriftete Tür. Jedes Mal betätigte Burgi die Klinke, fand die Tür jedoch stets verschlossen. Sie suchte nach einem Raum, der nicht einsehbar war, einen Ort, an dem sie sich den unendlich vielen fremden Blicken entziehen konnte. Und meinen.
Die Bedenkzeit war schon fast verstrichen, als Burgi vor einer Tür stand, an deren Klinke eine kleine Puppe hing. Ein Mädchen mit stangendürren Beinen, ein Fuß in einem weißen Tennisschuh, das andere Bein weiß umwickelt, ein Gipsbein. Der Kopf des Mädchens übergroß, die schwarzen Zöpfe reichten bis zum Saum des kurzen ärmellosen Kleidchens mit einem Vorhangmuster aus orangefarbenen, grünen und violetten
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