Der Überlebende: Roman (German Edition)
habe nie einen MBA ohne technische oder naturwissenschaftliche Ausbildung gehabt, der die technischen Aufgabenstellungen schneller begriffen hätte als sie. Das Marketing von D’Wolf America war immer zu deutsch: zu dicke, unübersichtliche Kataloge, ausufernde technische Beschreibungen. Sie sorgte dafür, dass in den Katalogen zum ersten Mal überhaupt Fallbeispiele vorkamen, abgefasst in der Sprache der Anwender, nicht im Geist der DIN-Technik. Natürlich war sie Mitglied im Kandor Club, unsere Abteilung erhielt ständig Anfragen aus anderen Bereichen, die sich für ihre Personalakte interessierten.
Es fing damit an, dass sie in Madrid einen Vortrag hielt und den Prado besuchte. Dort vertiefte sie sich in ein Bild, das ›Las Hilanderas‹, die Spinnerinnen, heißt. Vorn spinnen mehrere lebensgroß gemalte Frauen in einer Teppichwerkstatt Garn und winden es auf. Dahinter stehen, wie in einer Guckkastenbühne, drei Frauen, die einen Teppich betrachten. Auf diesem sind zwei weitere Frauengestalten abgebildet, eine davon trägt einen Helm, mit einer Drohgebärde bewegt sie sich auf die andere zu. Ich habe mir das Bild später angesehen, als ich ebenfalls in Madrid zu tun hatte. Es ist in einer Art Fleckentechnik gemalt, aus der Nähe betrachtet, sind die Konturen und Formen der Gegenstände nahezu aufgelöst. Greta schrieb mir, die Hilanderas seien wohl das älteste Arbeiter- oder Fabrikstück, das es auf der Welt gebe. Der Maler habe drei Hofdamen in die Teppichwerkstatt begleitet. Während sie sich über eine gerade fertiggestellte Arbeit unterhielten, habe er sich zurückgezogen und auf seinem Skizzenblock die Szene festgehalten. Ich dachte mir nichts bei ihrer Mail – warum sollte sich Greta nicht nachts auf dem Hotelzimmer, wenn sie allein und ihr langweilig war, mit einem Bild aus dem Prado beschäftigen?
Die nächsten Stationen ihrer Dienstreise waren Lissabon und Paris, jeden Tag sandte sie mir jetzt eine andere Deutung des Gemäldes. Während einer Budget-Konferenz – Greta wusste, dass ich zu dieser Zeit in einem Meeting war – erhielt ich eine Mail auf meinem Blackberry, in der sie mir erklärte, der Inhalt der Hintergrundszene stelle Ovids Bericht über den Wettstreit zwischen Pallas und Arachne in den ›Metamorphosen‹ dar. An die Einzelheiten erinnere ich mich wirklich nicht mehr. Nur daran, dass die beiden Frauengestalten auf dem Teppich ganz hinten Pallas Athene und Arachne in dem Augenblick darstellen, in dem die zornige Göttin im Begriff ist, die sterbliche Wettbewerberin zu züchtigen.
Zunächst hatte ich nicht vor, Gretas Mail während der Sitzung zu lesen, irgendetwas brachte mich dann doch dazu. Mit dem Ergebnis, dass ich einen wichtigen Diskussionsbeitrag nicht mitbekam und bei meiner nächsten Wortmeldung keine gute Figur machte. Noch aus der Konferenz schickte ich Greta eine ungehaltene Mail, ich wisse jetzt alles über das Gemälde und wolle keine weiteren Erläuterungen mehr. Unmittelbar danach ging ich eine Woche in Urlaub.
Nach meinem Urlaub war ihr Schreibtisch mit aufgeschlagenen Kunstbüchern bedeckt und ihr Bildschirm von Stapeln von Kunstlexika eingerahmt. Überrascht fragte ich sie, woran sie arbeite. Ungehalten gab sie zurück, natürlich an einer neuen Marketing-Kampagne. Völlig ernsthaft erklärte sie mir: Früher hätten die Götter über die Menschen geherrscht, heute entscheide die Technik über das Leben der Menschen. Anstelle der Launen der Götter bestimmten die Auswirkungen der Technik die Schicksale der Menschen. Es würden allgemeine Gesetze existieren, die das Entstehen und Vergehen von Formen, deren Dauer und Veränderungen regieren. Diesen Gesetzen sei sie auf der Spur. Wenn D’Wolf sich dieser Gesetze bediene, sei die Firma unschlagbar.
Hier dachte ich noch, o.k., sie hat aus ihren unkonventionellen Ideen immer etwas gemacht. Aber dann fing sie wieder mit Ovid an. Das beste Buch zum Thema seien die ›Metamorphosen‹. Sie versuche, möglichst viele Darstellungen der ›Metamorphosen‹ in der Kunst zusammenzutragen, um daraus Anregungen zu gewinnen. Ich sagte, mich interessierten Fakten und Zahlen. Greta ergänzte: »Und kein weicher Quatsch.«
An diesem Punkt konnte ich mich nicht mehr beherrschen und sagte: »Seien Sie nicht so ätzend.«
Da fragte Greta triumphierend: »Haben Sie ›ätzend‹ gesagt?«
Ich wollte sie beruhigen und fragte, ob ich ihr helfen könne. Darauf brach sie in lautes Gelächter aus.
Sie sagte: »Vielleicht bin ich
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