Der Überraschungsmann
Kopfkissen. Er hatte es endlich zugegeben. Er und Lisa waren Fannys Eltern. Sie hatten mir ihr Kuckuckskind ins Nest gelegt, und ich hatte es aufgezogen. Sie hatten mich tausendmal belogen. Beide. Er hatte mit meiner besten Freundin geschlafen. Schon bevor sie nebenan eingezogen war und dann immer wieder. Während ich ihr Kind gehütet hatte und schön diskret mit dem Baby spazieren gegangen war, damit sie unser Haus für sich hatten! Ich sah Lisa auf einmal wieder ihren Seidenschal von unserem Bett holen. »Hier ist er also! Ich hatte schon gefürchtet, ich hätte ihn verloren.«
Die ganze Nacht lag ich auf dem Bett und starrte an die Decke.
Am nächsten Morgen war die Fastengruppe abgereist. An der Rezeption standen neue Gäste, die ich nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte. Ich vermummte mich mit Kapuzenregenjacke und Schal und stapfte ziellos in die Nebelsuppe hinaus. Schon bald hatte mich der barmherzige Wald verschluckt. Meine Schritte knirschten im Schnee, und der Atem stand mir vor dem Gesicht. Die Hände hatte ich tief in den Jackentaschen vergraben. Irgendwo krächzte ein Vogel. Ich fühlte mich so unglaublich einsam und verlassen! Wie in Schuberts »Winterreise« stapfte ich einfach ziellos vor mich hin. Eine Krähe war mit mir … Sonst nichts. Niemand.
Was sollte ich tun? Was sollte ich nur tun? Jeder Schritt, den ich mich weiterschleppte, machte mich ratloser. Ob es da irgendwo einen gnädigen Felsvorsprung gab, von dem ich mich stürzen konnte? Doch wen würde ich damit beeindrucken? Wen damit strafen?
Tapp tapp tapp.
Die Tannen standen wie mitleidige Trauergäste am Wegesrand und wiegten sich raunend hin und her – wie alte Tanten, die auch nicht weiterwissen.
Ich MUSSTE nachdenken. Knirsch knirsch knirsch. Nach- denken. Jemandem nach-denken. Den Kindern. Meinen Mädchen. Sie hatten es nicht verdient, in ein solches Chaos gestürzt zu werden. Ich hatte ihnen eine heile, große, harmonische Fami lie bieten wollen. Ein warmes Nest, in dem nun ein Kuckuckskind saß und seinen Schnabel aufsperrte. Aber Fanny konnte doch nichts dafür! Ich verspürte einen wehmütigen Stich. Sollte ich zu Volker und den Kindern zurückkehren? Liebte er mich wirklich noch? Ich glaubte es ihm sogar. Sicher wollte er lieber mit mir weiterleben als mit Lisa. Wir waren ein eingespieltes Team. Ich war die bessere Hausfrau. Vermutlich auch die reifere Gesprächspartnerin. Die zufriedenere, dankbarere Frau. Vielleicht nicht mehr so jung und knackig, aber jemand, mit dem Volker in Ruhe alt werden konnte. Und genau das hatte ich doch auch gewollt! Aber konnte ich ihm diesen Seitensprung verzeihen? Den Seitensprung vielleicht, aber DIE LÜGE ?! Den Betrug mit meiner besten Freundin? Das Kuckuckskind? Wie konnte man so etwas verzeihen? Und selbst wenn – wo wäre das Vertrauen?
Was würde aus Fanny? Sollte ich sie rausschmeißen? Oder selbst gehen? Was fühlte ich noch für Volker? Und was für Lisa? Ich hatte sie geliebt. Alle beide. Mich für sie aufgezehrt. Warum empfand ich dann keinen Hass? Keine Rachegedanken?
War ich wirklich unentbehrlich? Wollte ich unentbehrlich sein? Hatte diese Seherin recht? Hatte ich das Band der Liebe so überdehnt, dass es gerissen war?
Meine Kinder. Meine beiden Mädchen. Mit denen wollte ich leben, so viel stand fest. Falls ich überhaupt noch leben wollte. Und dazu musste ich mich erst mal durchringen.
Als ich nach Stunden durchgefroren wieder in den Vollererhof zurückkehrte, stand ungefähr ein Dutzend Personen, die offensichtlich gerade von irgendetwas Pause hatten, rauchend auf der Terrasse. Einige stopften sich eilig jene Häppchen hinein, die ein lodenbemantelter Kellner beflissen herumreichte. Das war eindeutig keine Fastengruppe. Ich schob mich zögernd an den Leuten vorbei, unschlüssig, was ich nun tun wollte. Über die nächsten fünf Schritte hinaus hatte ich keinen Plan. Geschweige denn über die nächsten fünf Minuten, fünf Tage, fünf Jahre. Die Glastür zum Seminarraum war weit aufgeschoben. Darin hockten auch noch ein paar Herrschaften, die eifrig mit farbigen Stiften auf große Blätter schrieben. Sie schienen die ganze Welt um sich herum vergessen zu haben. Einige hatten die Köpfe zusammengesteckt und berieten sich leise. Andere hefteten ihre Blätter an die Wände und lasen, was die anderen geschrieben hatten. Irgendwie fühlte ich mich zu ihnen hingezogen. Wahrscheinlich fühlte ich mich inzwischen so einsam, dass ich mich auch zu einer Gruppe
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