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Der Überraschungsmann

Titel: Der Überraschungsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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über den ich damals so lachen musste! Wie hieß der noch gleich?
    »Trunkenpolz«, sagte der Mann und schüttelte mir erfreut die Hand. »Justus Trunkenpolz. Und Sie sind …« Er überlegte drei Sekunden, wobei er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte. »Barbara Wieser. Wie geht’s dem Fuß?«
    »Dem Fuß geht es besser als dem Rest«, brachte ich erstickt hervor.
    Justus Trunkenpolz sah mir besorgt in die Augen. »Sie sehen nicht gut aus.«
    »Nein. Ich weiß.«
    »Ganz und gar nicht gut. Sie wirken unrund.«
    Das hatte der Kerl doch tatsächlich schon im letzten Sommer gesehen! UNRUND ! In jeder Weight-Watchers-Gruppe wäre das das Kompliment des Jahrhunderts!
    Die anderen rückten auf ihren Stühlen herum und starrten zu uns herüber.
    »Ich fühle mich auch nicht besonders … ähm, rund.« Meine Stimme zitterte.
    »Kommen Sie.« Justus Trunkenpolz schob einen Stuhl in die Runde. »Bleiben Sie ein Weilchen. Vorausgesetzt, der Rest der Truppe hat nichts dagegen?«
    Aber alle hatten Charakter und Charisma. Niemand hatte etwas dagegen.

22
    D as Seminar »Charakter und Charisma« hatte zum Ziel, dass die Teilnehmer – die übrigens nach einer Idee von Justus »Teilgeber« genannt wurden – lernten, wie sie auf andere wirkten. Zu diesem Zweck hatten sie, während ich wie eine Marionette durch den Wald gestolpert war, einen Brief an sich selbst geschrieben. Aus der Sicht der Gruppe.
    Also, Ideen hatte dieser Justus!
    »Lieber Walter«, las ein kleiner Banker im Nadelstreifenanzug in Schweizer Dialekt vor, was er im Namen der Gruppe an sich selbst geschrieben hatte. Er sah sich verlegen in der Runde um, bevor er grinsend fortfuhr: »Als wir heute Morgen zum ersten Mal sahen, wie du in deinem Lamborghini mit Schweizer Kennzeichen vorgefahren bist, oder, haben wir schon geglaubt, du seist auf Statussymbole aus, oder. Auch die Art, wie du uns beim Frühstücksbüfett alle ignoriert hast, hat uns zuerst irritiert, oder. Nachdem du die Hannelore nicht zurückgegrüßt hast, weil sie deiner Aussage nach nicht mehr in dein Beuteschema passt, fanden wir dich fast ein bisschen arrogant. Aber nun kennen wir dich als unheimlich geistreichen Zeitgenossen. Wir bewundern dich für deine Intelligenz, denn wir wissen nun, wie du aus eigener Kraft zum Multimillionär geworden bist. Auf deiner Suche nach dir selbst sind wir dir auch weiterhin gern behilflich und können nur sagen, willkommen, liebrrr Waltrrrr, du bist echt eine Bereicherung für uns. Charakter und Charisma haben die Götter mit einem großen Füllhorn über dir ausgeschüttet. Das hätten wir auch gern, oder. «
    Die anderen lachten sich kaputt und applaudierten.
    Ich ertappte mich dabei, wie ich mitmachte.
    Justus Trunkenpolz blickte zu mir herüber. Ihn schien es zu freuen, dass ich mich freute.
    Bevor ich wieder in Depressionen verfallen konnte, las schon der nächste Teilgeber vor, es war der Große in Rot: »Lieber Wolfgang, wir durften dich als netten Kerl kennenlernen, der stets ein offenes Ohr für andere hat und sich selbst immer hintanstellt. Toll wäre es, wenn wir dich dazu bringen könnten, dich etwas wichtiger zu nehmen. Wir glauben nämlich, dass du ein ganz wertvoller Mensch bist, der nur zu schüchtern ist, sich einfach mal in die erste Reihe zu stellen und laut den Mund aufzumachen. In diesem Sinne: Brüll doch mal, Löwe! Deine Gruppe.«
    Die anderen nickten und klopften dem schüchternen Wolfgang auf die Schulter. Der errötete vor Freude.
    Das tagelange absolute Halteverbot für Lächeln in meinem Gesicht war offensichtlich aufgehoben. Es fand einen Dauerparkplatz. Plötzlich war ich mittendrin. Bei jedem Teilgeber, der den Brief an sich selbst vorlas, hatte ich das Gefühl, ihn schon eine Ewigkeit zu kennen. Zum ersten Mal vergaß ich meine eigenen Probleme und versenkte mich in die der anderen Teilgeber, die ebenfalls auf der Suche nach sich selbst waren.
    »Liebe Hannelore! Du bist eine ganz Liebe, die das Herz auf dem rechten Fleck hat. Leider unterliegst du dem fatalen Irrtum, schon zum alten Eisen zu gehören, nur weil du über fünfzig bist! Auch wenn du ein paar Pfund Übergewicht mit dir herumträgst, bist du doch noch eine äußerst attraktive Frau. Lass dich nicht länger übersehen! Du bist ein echter Hingucker! Deine Gruppe, insbesondere dein Walter, der dich ab sofort beim Frühstück grüßen wird!«
    Die anderen Teilgeber sprangen immer wieder auf und markierten die schönsten Stellen mit Herzchen, Ausrufezeichen oder

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