Der Überraschungsmann
Obdachloser gesellt hätte, die gerade eine Schnapsflasche herumgehen lassen. Nur um endlich wieder so etwas wie menschliche Nähe zu fühlen, betrat ich scheu den Seminarraum. Ein weißhaariger, großer Mann in Cordhosen und grob gestricktem rotem Pullover bemerkte mich. Freundlich sah er mich an. »Hallo. Suchen Sie jemanden?«
Ja. Mich. Mein weiteres Leben. Aber das werde ich hier nicht finden.
»Entschuldigen Sie die Störung …«, stammelte ich und musste die Tränen zurückdrängen. Mein Selbstbewusstsein war auf die Größe eines Stecknadelkopfes zusammengeschrumpft. Wenn mich jetzt jemand fragte, wie es mir geht, würde ich nie mehr aufhören zu weinen.
Zwei andere Gesichter schauten von ihren Texten auf und sahen mich an. Auf einmal verspürte ich eine schreckliche Sehnsucht, hier dabei sein zu dürfen, egal worum es sich handelte. Und wenn es ein Steuerberaterseminar war über Körperschaftsteuer und die Randziffer 104 – egal! Ich wollte unter Menschen sein.
»Können wir Ihnen helfen?«
»Ich weiß nicht …« Ich stand kurz davor, dem Fremden um den Hals zu fallen und »Bitte, halten Sie mich! Halten Sie mich einfach nur fest!« zu rufen.
»Sind Sie Seminarteilgeberin?« Ich zuckte leicht zusammen. Hatte ich dieses Wort nicht schon mal irgendwo gehört?
»Was für ein Seminar ist das denn hier?«
»C und C«, sagte einer von den eben noch Rauchenden, der jetzt fröstelnd wieder hereinkam.
Aha. Also doch irgendwas Ätzendes, das ich nicht verstand und nie verstehen würde. Verkaufsstrategien bei C&A oder so. Wenn ich einfach nur hier sitzen dürfte? Und ihnen zuhören bei ihren Übungsgesprächen? Nur ein Stündchen?, dachte ich. Hauptsache, ich musste nicht wieder allein auf mein Zimmer gehen, in dem ich das Tapetenmuster schon kannte und die Maserung der hölzernen Zirbeldecke?
»Charakter und Charisma«, fügte eine rundliche Frau um die vierzig hinzu.
»Aha«, flüsterte ich beeindruckt. »Das hab ich beides nicht.« Denn sonst wäre mir dieses Drama bestimmt nicht passiert. Die Worte kamen mir merkwürdig bekannt vor. Auf einmal spürte ich ein Stechen. Ich konnte es nicht lokalisieren. Im Fuß vielleicht? Jetzt war ich wirklich kurz vor dem Wahnsinn. Ich konnte meine Schmerzen nicht mehr lokalisieren.
»Sie sind wohl nicht angemeldet?«
»Nein.«
»Aber vielleicht können Sie noch mitmachen«, sagte der Große in Rot. Irgendwie schien er meine Hilflosigkeit, mein Elend zu spüren.
»Aber Wolfgang, sie hat doch den Anfang nicht mitbekommen …«
»Warten wir doch ab, was der Chef sagt. Er müsste jeden Moment wieder da sein.«
»Kommen Sie!« Der Nette zog mich weiter in den Raum und schloss die Terrassentür hinter mir. »Sie sind ja vollkommen durchgefroren. Wollen Sie nicht in die Sauna gehen? Dieses Hotel hat einen vorzüglichen Wellnessbereich.«
»Nein. Da war ich schon.« Wenn du wüsstest, wie verschrumpelt ich schon bin!, dachte ich bei mir.
Die Mitglieder der Gruppe nahmen wieder ihre Plätze ein. Stühle wurden gerückt, Jacken aus- oder angezogen, Schreibblöcke zur Hand genommen, Beine übereinandergeschlagen und Nasen geputzt. Es wurde leise diskutiert und gekichert, jemand hüstelte, ein anderer schaltete sein Handy aus. Ich drückte mich an der Wand herum wie eine Schülerin, die zum ersten Mal in einer neuen Klasse steht, und überlegte, wie ich nun am unauffälligsten verschwinden könnte. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Der Mann, der sich mit einer Tasse Tee in der Hand rückwärts hereinschob, kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, woher. Er hätte die Hemdsärmel hochgekrempelt. Goldene Härchen standen von seinen Armen ab.
»Also, Leute, wie schaut es aus? Habt ihr den Brief der Grup pe an euch selbst fertig?«, fragte er mit tiefer, freundlicher Stimme.
»Wir haben einen Brief an uns selbst geschrieben«, flüsterte die gutmütige rundliche Frau, die vor mir saß, mir zu. »Von der Gruppe an uns. Darüber, wie uns die Gruppe sieht. Beziehungsweise darüber, wie wir glauben, dass uns die Gruppe sieht.«
Ich räusperte mich verlegen. Deren Sorgen wollte ich haben.
»Wen haben wir denn da?« Der Gruppenleiter stellte seine Teetasse ab und kam auf mich zu. »Wir kennen uns doch?«
»Ich weiß nicht …?«
»Die Frau mit der Scherbe!« Der Chef zeigte lächelnd auf mich. »Was für eine Freude.«
Plötzlich wurde mir wohlig warm. Es war dieser Geistliche vom Pallottiner-Schlössl, der mir den Fuß verbunden hatte! Mit dem unsäglichen Namen,
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