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Der Überraschungsmann

Titel: Der Überraschungsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Smileys. Ich fand diese Übung entzückend. Sie war so entwaffnend! Und das war also das Seminar von Justus Trunkenpolz?
    Als alle ihre Briefe, die groß an den Wänden des Raumes hingen, vorgelesen hatten, fragte Justus Trunkenpolz, ob ich mich bereits in der Lage sähe, einen Brief von der Gruppe an mich selbst zu schreiben.
    »Nein!«, rief ich verängstigt. »Nein, bitte! So weit bin ich noch nicht!«
    Was sollte ich schreiben? Liebe Barbara, du bist eine verheulte Eule, die irgendeinen großen Kummer mit sich herumschleppt und sich dringend mal wieder schminken müsste. Wenn du dich immer so hängen lässt, treten wir dir in den Hintern. Wir lassen dich bis auf Weiteres hier sitzen, wenn du zwischendurch mal lächelst. Deine Gruppe.
    »Das macht nichts.« Justus Trunkenpolz teilte neue Blätter aus.
    »Die nächste Übung ist der Lebensbaum.«
    Manche nickten entzückt; sie waren schon wiederholt Teilgeber gewesen und wussten, wovon der Meister sprach.
    »Zeichnet euer Leben als einen Baum mit Wurzeln, Stamm, Ästen, Zweigen und Früchten. Woher kommt ihr? Woraus bestehen eure Wurzeln? Was hat euch geprägt? Was macht euch aus? Wie stabil ist der Stamm? Was gibt dem Stamm Kraft? Ist er gerade, ist er krumm, wohin wächst er? Wer sind eure Äste und Zweige, wohin führen sie, und letztlich: Was sind eure Früchte? Gibt es auch faule Früchte an eurem Lebensbaum? Auf welche Früchte seid ihr stolz?«
    Er reichte auch mir ein großes Blatt. »Machen Sie mit, Barbara. Sie sind herzlich eingeladen.«
    Ich war ihm so dankbar! Er holte mich wirklich aus der Hölle! Wie ein Kindergartenkind hockte ich selbstvergessen im hintersten Winkel des Raumes auf dem Fußboden und zeichnete meinen Baum. Das war die beste Therapie, die ich mir vorstellen konnte.
    Meine Wurzeln, das waren Disziplin, Vertrauen, Familiensinn, Fleiß und Liebe.
    Mein Stamm, das war Volker. Das Haus. Mein Beruf. Meine Stadt.
    Die Äste, das waren Leonore, Nathan, Wiebke. Sie alle entsprangen aus diesem Stamm, waren zum Teil knorrig, sperrig, kahl und spitz. Dieser Teil des Baumes war abgestorben.
    Der andere Teil hatte noch grüne Zweige. Das waren Emil, Charlotte und Pauline. Ich versah sie mit prallen Früchten und bunten herzförmigen Blüten.
    Dann war da noch ein junger, schlanker Ast. Aber seine Blätter verfärbten sich braun. Dieser Ast spross direkt aus dem Teil des Stammes, der mit »Vertrauen« beschriftet war. An seinem Ende hing eine einsame kleine Blüte, die abzufallen drohte. Ich betrachtete mein Werk ausgiebig.
    Das war mein Baum.
    Mein Lebensbaum.
    Als ich ihn vor den anderen Teilgebern erklären wollte, brach mir die Stimme.
    Die anderen Teilgeber sahen mich mitleidig an. Obwohl das Weinen hier zur Tagesordnung gehörte und keinem mehr wirklich peinlich war, merkten sie, dass ich in einer ECHTEN Krise steckte.
    Als hätte er einen siebten Sinn, reichte mir Justus von schräg hinten ein Taschentuch.
    Ich schnäuzte mich hinein und versuchte weiterzureden. Es ging nicht. Ein haltloses Schluchzen entwich mir und schüttelte mich so, dass ich kein einziges Wort mehr herausbrachte.
    Aber das war gar nicht nötig. Die Gruppe konnte lesen.
    Justus legte den Arm um mich und sagte mit seiner tiefen, ruhigen Stimme: »Pause.« Dann nahm er mich einfach nur ganz fest in die Arme und ließ mich weinen.
    Immer, wenn du glaubst, es geht nicht mehr,
kommt von irgendwo ein Lichtlein her.
    Diesen Spruch hatte ich schon oft gehört und als naiv abgetan. Aber er traf zu! Das Lichtlein in meiner absoluten Finsternis war diese Gruppe von Leuten, die sich bemühten, bessere Menschen zu werden! Konnte mir etwas Schöneres passieren? Menschen, die bereit waren, an sich selbst zu arbeiten? Die versuchten, ihren Charakter, ihr Charisma zu optimieren? Die zuhören konnten oder es wenigstens lernen wollten, ohne sich selbst zu bereichern? Die wieder Mitgefühl empfinden lernen wollten? Die ein Seminar besuchten, um sich der Kritik anderer preiszugeben? Die den Mut hatten, sich dem »Spiegelkabinett« zu stellen, das Justus Trunkenpolz ins Leben gerufen hatte?
    Wie ich im Lauf der nächsten Tage herausfand, war er überhaupt kein Geistlicher. Im Gegenteil. Er war sogar ziemlich weltlich, war schon zweimal verheiratet gewesen und hatte zwei erwachsene Söhne, die ihm bei seinem Seminar assistierten. Sie hatten alle beide etwas Warmes, Liebevolles in den Augen, das ihren jungen Gesichtern eine seltsame Weisheit verlieh. Ihnen fehlte dieses Kalte, Abschätzige,

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