Der Überraschungsmann
hat Fanny abgeholt«, fuhr Volker düster fort. »Sie hatte dem Dirigenten noch nichts von dem Kind erzählt. Sie will jetzt mit ihm und Fanny zusammenziehen – falls der Dirigent das Kuckuckskind überhaupt aufnimmt.«
Er zog die Schultern hoch und kickte mit dem Fuß einen Stein aus dem Weg: »Bei UNS hätte es Fanny einfacher gehabt.« Er schenkte mir einen raschen Seitenblick. »Die Großen waren ja völlig begeistert, als sie erfahren haben, dass Fanny ihre Schwester ist! Alle haben die Kleine ins Herz geschlossen.«
Ich antwortete nicht. Ich schluckte mehrmals und versuchte mich zusammenzureißen. Jetzt muss nur noch die dämliche Bescheuerte wieder mitspielen, und schon ist alles in schönster Ordnung.
»Ich werde die Kleine schrecklich vermissen«, murmelte ich stattdessen.
Volker zog ein Taschentuch aus seiner Manteltasche. »Und ICH ? Meinst du, ich werde meine kleine Fanny NICHT vermissen? Meinst du, ich sterbe nicht bei dem Gedanken, dass sie jetzt in London bei einem fremden Dirigenten wohnt und eine Nanny hat, die sie durch den Hydepark schiebt?«
Ich konnte nicht antworten. Ich starrte ihn nur an und fühlte mich, als ob ich in ein Paralleluniversum katapultiert worden wäre.
War das jetzt alles MEINE Schuld?
Er fuhr wirklich die schwersten Geschütze auf. Er WUSSTE , dass ich diesen Gedanken selbst nicht ertragen konnte.
»Volker!«, sagte ich und blieb stehen. Ich spüre, wie meine Stimme leise zitterte. »Auch ich habe Fanny ins Herz geschlossen wie ein eigenes Kind.« Oh, Gott, jetzt brach mir die Stimme weg. Ich zwang mich, mir jedes einzelne Gesicht der Seminarteilgeber vom Vollererhof vorzustellen. Keine Schuldzuweisung!, hörte ich sie sagen. »Aber entschieden deinen Standpunkt vertreten.« Ich räusperte mich und sprach weiter: »Aber so kann ich nicht weiterleben. Und so WERDE ich auch nicht weiterleben.«
»Dann lass uns von vorne anfangen! So tun, als wenn nichts gewesen wäre!«
Ich fühlte mich, als wenn ich an einem Abgrund stünde. Ein falsches Wort, und ich würde rückfällig werden. Mein Volker. Mein geliebter, vertrauter, gut aussehender, kluger (oder besser: verschlagener?) … NEIN !
»Deinen Seitensprung hätte ich dir verziehen.« Ernsthaft sah ich Volker an. Ich zwang ihn, mir ganz tief in die Augen zu sehen. Er nahm meine Hand, aber ich entzog sie ihm.
»Aber die LÜGE , Volker. Die LÜGE . Dass du mir jetzt fast zwei Jahre nichts gesagt hast. Dass du zuerst Sven und dann sogar deinen eigenen Sohn Nathan zum Sündenbock gemacht hast. Und dich als treu sorgenden Vater hingestellt hast, der deren Suppe auslöffelt. Als Ehrenmann. Das ist so berechnend, so mies, so falsch … DAS kann ich dir nicht verzeihen.«
Wir gingen schweigend weite. Ich fühlte mich wie in einem Film auf ARTE oder 3sat, in dem ein Paar einfach nur stundenlang schweigend durch die Gegend latscht. Ein Film also, bei dem meine Töchter längst umgeschaltet hätten. So ein düsterer französischer Problemfilm, dessen marode Stimmung sich auf den Zuschauer überträgt. »Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?« Diese neugierige Frage konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Jetzt war sowieso schon alles egal.
»Sie kam zu mir in die Praxis. Sie brauchte dringend eine Impfung.« Volker schaute mich an wie ein Hund, der gerade das Sofakissen kaputt gebissen hat. »Sie hatte ein Tattoo auf der linken Pobacke: einen Schmetterling.«
Es war egal, ob bei mir jetzt die Tränen liefen.
Das war ja wirklich Schema F. Ob Wiebke sich genauso gefühlt hatte, als es damals mit uns losging? Mir hatte Volker versichert, dass er sich so oder so von Wiebke würde scheiden lassen! Hatte er Lisa das auch weisgemacht? Und sie damit he rumgekriegt? War Volker ein Wiederholungstäter? War er wirk lich so berechnend und verlogen? Und wenn er mich mit Lisa betrogen hatte und Wiebke mit mir, dann … Waren da womöglich noch andere Leichen im Keller? Ich musste mich konzentrieren. Nein. Es ging um Lisa. Das reichte ja wohl, oder? Ich musste ihm klarmachen, warum ich nicht mehr mit ihm leben konnte.
»Wie soll ich dir jemals wieder vertrauen?« Ich blickte ihm tränenüberströmt in die Augen. »Hm? Sag es mir! Wie?«
»Ja, das ist alles wahnsinnig blöd gelaufen«, gab Volker zerknirscht zu. »Aber wie hätte ich denn ahnen können, dass diese kesse kleine Lisa plötzlich meine Nachbarin wird?« Er konnte meinem Blick nicht standhalten. »Wir waren nur ein einziges Mal zusammen. Ich WOLLTE sie gar nicht
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