Der Überraschungsmann
ich im Sommer meine Fremdenführertouren wieder aufnehmen, aber noch genoss ich die Ruhe vor dem Sturm. Mit diesem neuen Vögelchen im Nest fühlte ich mich wieder so richtig gebraucht. Wenn Fanny weinte, wenn ihr zahnloses Mündchen aufgerissen war und ihr Kinn zitterte vor Hunger oder Frust, gelang es mir schneller als Lisa, das Würmchen wieder zu beruhigen. Das ist wie mit dem Schwimmen oder Fahrradfahren, ging es mir durch den Kopf. Den Umgang mit Kleinkindern verlernt man nie.
Lisa ging zwar auch liebevoll mit ihrem Töchterchen um, aber doch viel burschikoser. Wahrscheinlich hatte sie es so bei ihrer eigenen Mutter gesehen. Bei sieben Kindern wurde nicht lang herumgeschmust. Das konnte ich manchmal gar nicht mit ansehen und nahm ihr möglichst unauffällig das Baby ab, damit sich Lisa auf ihre Karriere konzentrieren konnte. Um für ihre nächste Rolle fit zu sein, hielt sie sich an eine bestimmte Diät, die Spezialisten aus Amerika jungen Müttern empfahlen. Es machte mir nichts aus, die Mahlzeiten für Lisa zuzubereiten. Frisches Obst und Eiweiß-Shakes, wenn auch nur Sorten, die dem armen Baby keine Blähungen bescherten. Wenn Lisa gestillt hatte, legte ich Fanny in den Kinderwagen und zog stolz mit ihr los, um einzukaufen und Erledigungen zu machen. Jeden Morgen stattete ich dem Grünmarkt einen Besuch ab, um die nötigen Zutaten für Lisas Diät zu erstehen. Währenddessen übte Lisa bei uns im Musikzimmer ihre neue Partie ein, nicht selten begleitet von Leonore, die auf diese Weise auch eine neue Aufgabe hatte! Das war doch etwas ganz anderes als die alten Damen, mit denen sie immer Kanons sang! Leonore blühte förmlich auf.
Wenn ich mittags mit dem friedlich schlafenden Baby vom Einkaufen wiederkam, trudelten auch gerade die Mädchen von der Schule ein. Volker schaute bei der Gelegenheit schnell für ein leichtes Mittagessen vorbei, dann kümmerte ich mich um die Hausaufgaben. Volker brach nach einem Mittagsschlaf oder einem Stündchen im Fitnesskeller zu seinen Hausbesuchen auf. Manchmal trafen wir uns nachmittags in der Stadt und schlenderten auf ein Eis zum Demel. So verging der Frühling, und ich war ganz sicher, dass wir alles richtig gemacht hatten. Sven war kein Thema mehr. Die Scheidung lief, und Volker hatte alles im Griff.
Eines Nachmittags Ende Mai – Lisa war gerade zu ihrer ersten Bühnenprobe im Landestheater, begleitet von einer aufgeregt um sie herum flatternden Leonore, die sich für unersetzlich hielt – saß ich mit den Mädchen und Fanny in unserem Lieblingsgastgarten, dem »MoZart«. Der Himmel war so tiefblau, wie er nur im Mai sein kann, die Luft war klar, und die Amseln zwitscherten. Draußen waren alle Tische besetzt. Die Kinder hatten einen großen Eisbecher mit frischen Erdbeeren bestellt, und ich genehmigte mir eine große Soda Zitron.
»Kinder, ist das Leben schön!«, rief ich, lehnte mich genüsslich zurück und schaukelte mit einer Hand am Kinderwagen. Zufrieden blinzelte ich in die Sonne.
Wenn das da vorn nicht wieder Volkers Wagen war! Vor dem Haus mit der alten Patientin, in dem es keinen Aufzug gab. Wenn er mit dem Hausbesuch fertig war, konnte er sich gleich zu uns setzen. Das war immer das Netteste, wenn sich mein geliebter Volker überraschend zu uns gesellte (und alle sehen konnten, was für eine Vorzeigefamilie wir waren).
»Charlotte, du bist flinker als ich. Schreib dem Papa eine SMS , dass wir hier sitzen und auf ihn warten, ja?«
»Gut. Gib her.«
»Mama, lass MICH …«
»Finger weg, Pauline!«
»Nicht streiten, Mäuse, bitte. Haben wir nicht ein herrliches Leben in dieser wunderbaren Stadt?«
»Ja, Mama. Passt schon.«
»Immer wieder läuft man jemandem über den Weg, den man kennt, alle grüßen sich und …«
»Mamaaaaa!« Charlotte verdrehte genervt die Augen. »Nicht schon wieder DIE Platte, okay?«
»Es gibt auch ganz hässliche, hektische Großstädte, in denen man noch nicht mal die eigenen Nachbarn kennt, geschweige denn sich um sie kümmert …«
»Ja, Mama. Wir wissen es. WIR kümmern uns um unsere Nachbarn.« Charlotte warf einen spöttischen Blick auf den Kinderwagen.
»Schaut doch mal, diese Aussicht!« Ich zeigte auf den Gais berg, wo die Natur förmlich explodierte. »Wie viele verschiedene Sorten von Grün könnt ihr sehen? Hm? Zählt mal.«
»Ja, ja, Mama. Das ist voll das geile Panorama für die Senioren. Darauf kannst du deine Touristengruppen aufmerksam machen.« Paulinchen spielte mit ihrem Handy. Die Mädchen wollten
Weitere Kostenlose Bücher