Der Umweg nach Santiago
formulieren, und es würde mir nicht gelingen. Einmal, in der Wintermoschee in Teheran, hatte ich für mich notiert, daß arabische Kunst unmenschlich sei, und damit gemeint, daß es kein Gesicht und keine Gestalt gibt, an denen man sich festhalten kann, die Religion läßt keine menschlichen Darstellungen zu, diese Kunst ist nichts als Form, Konstruktion, Verzierung, Geometrie, Harmonie, Pracht, Grotten aus Perlmutt und Holz und Gips und Marmor, Kuppeln aus Gold und Glasur. Kein Halt, nur ein Schwindelgefühl, bis man entdeckt, daß sich in dieser Ornamentik Buchstaben und Worte verbergen und daß der Raum sich durch das Geschriebene selbst beschreibt, wie in den tacas (tāqāt, Nische) im Durchgang zum Patio de los Arrayanes, dem Myrtenhof:
Ich bin ein Mihrāb fürs Gebet
ich geh’ bis dorthin und nicht weiter
du glaubst, der Wasserkrug
raunt die Gebete aus seiner Tiefe
und immer, wenn er fertig ist,
muß er von vorn beginnen ...
Mit dem spanischen Buch in den Händen bin ich etwas weniger blind als die anderen, aber es hilft nicht, denn die Übersetzungen sind kryptisch und die arabische Kalligraphie daneben kann ich nicht lesen, ich kann höchstens eine Wiederholung von Zeichen erkennen und versuchen, diese in den soviel verzierteren Buchstabenin den Nischen wiederzufinden. »Du, Sohn und Enkel von Königen«, lese ich, »du, vor dem die Sterne sich beugen ...«, aber während ich lese, werde ich wieder dümmer, denn die Gedichte sind hier nicht nur übersetzt, sondern auch analysiert, sechs Verse sind es, im Metrum basit , und der Reim ist mu , doch die Musik dieses Reimes vermag ich nicht zu hören, und um zu wissen, wie basit klingt, müßte ich noch ein Leben besitzen, eines, in dem ich jemand anders wäre, ein Muslim zur Zeit Jusufs I ., einer, der fern der christlichen Welt durch die Alhambra meines Königs wandert und weiß, daß das Gedicht am Eingang zum Saal der Gesandten von Ibn-al-Jatib stammt, daß die fünf Verse im Metrum kamil abgefaßt sind, und ohne zu denken würde meine innere Stimme die Worte sprechen, wie der Versfuß es will, und dann wäre ich schon wieder verschwunden, ein Mann in wehenden Gewändern unter anderen Männern in wehenden Gewändern, schlurfende Pantoffeln auf Marmor, raschelnder Stoff, stets dahineilend unter den Schneekristallen der muqarnas , an den mihrabs vorbei, die nach Mekka zeigen, durch Gänge und Säle, in denen später eine andere Rasse umherwandern sollte, ein Volk von Blinden und Tauben, das die Worte meiner Dichter nicht lesen kann und von meiner Zeit lediglich das Dekor sehen sollte, das wir hinterlassen hatten und das ohne uns nur eine stets wiederholte Form war, in die sie nicht paßten, die höchstens bei einzelnen Heimweh oder Staunen hervorrief, und meist nicht einmal das. Meine Welt war für immer aus Europa verschwunden, nachdem Abu Abd Allah Mohammed, der letzte Sultan von Granada, den die Sieger Boabdil nannten, weil sie unsere Worte nicht aussprechen können, den Katholischen Königen die Schlüssel der Stadt überreicht hatte; wir hatten uns nach Ifriquia zurückgezogen, von wo wir gekommen waren, was wir zurücklassen sollten, waren Worte, Bauten, Echos in Ortsnamen, Stil, das, was am leichtesten zu sehen war, doch in den Bibliotheken von Granada und Toledo, von Leiden und London, sollte unser anderes Erbe weiterschlummern, Manuskript Nr. 539 March Or. in der Bodleian Library in Oxford, Manuskript Nr. 9033 Or. imBritish Museum, Manuskript Nr. 1411 in der Bibliothek der Royal Asiatic Society of Bengal, Manuskript Tabâtaba’i in der Bibliothek des Parlaments in Teheran, Nr. 1143, Manuskript Alwāh in einer Sammlung des Vatikans, Katalog von Levi della
Vida, S. 141, mit einer Kopie in Berlin (Nr. 4130) und in der Biblioteca Ambrosiana, aufgenommen im Buch Sifr Adam. Fragmente, Bögen, Fetzen, Blätter, Bücher und Teile von Büchern. In tausend Bibliotheken Alexandrias sollten Gelehrte jahrhundertelang, bis in eine Zeit hinein, die ich mir nicht mehr vorstellen konnte, suchen, nachdenken, raten, wissen, zurechtrücken, kommentieren, was wir und jene anderen Vertriebenen, die Juden, für die westliche Welt übersetzt und damit gerettet hatten, den Malfouzāt Aflātūn , die Worte Platons, die Exegese der Problemata von Aristoteles durch Johannes Philoponos, den Al-ara’al-tabi’yyah von Plutarch, Fünf maqalahs, die die Ansichten der Philosophen zur Physik enthalten , übersetzt von Qusta ibn Luqa de Baîabak, den Tafsîrs , Kommentare von
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