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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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den Ruf von Dekadenz. All dies trug im Verein mit der politischen Schwäche dazu bei, daß die Taifa von Toledo das erste Ziel christlicher Expansion wurde.
    Innerhalb der Stadt gab es natürlich ebenfalls zwei Fraktionen, eine für Alfons und eine gegen ihn, und dieser tat, was Großmächte immer tun: Er ließ sich von der mozarabischen, das heißt der unter den Muslimen lebenden christlichen Gemeinschaft in Toledo »zu Hilfe« rufen. 1085 zog er in die Stadt ein, aber auf elegante Weise. Selbstverwaltung für die moslemische und für die christliche Gemeinschaft, eine Übergangszeit, während der die westgotischen Christen ihrem eigenen Ritus treu bleiben durften. Er nannte sich, oh Vorbild, Kaiser beider Religionen. Die übrigen moslemischen Herrscher in Spanien witterten Unheil, aber ob sie es damals schon Dominoeffekt nannten, weiß ich nicht. Sie standen jetzt vor der Wahl – sich entweder Alfons zu unterwerfen oder die militärisch mächtigen, »calvinistischen« nordafrikanischen Muslimbrüder zu Hilfe zu rufen, eine puritanische, khomeiniartige Berberdynastie, die Almoraviden. Die damaligen Ayatollahs, Mullahs, Theologen, geistlichen Führeroder wie man sie auch nennen will, die unter der »dekadenten, weltlichen« Herrschaft der Taifa-Fürsten viel an Einfluß verloren hatten, waren sehr dafür, den Almoravidenführer Jusuf zu Hilfe zu rufen. Das geschah auch, doch Jusuf hatte keine Eile. Er verachtete die in seinen Augen kompromittierten, halbheidnischen Taifa-Fürsten und wußte, daß sie wiederum ihn für einen ungebildeten Barbaren hielten. Aber er kam. Im Jahr 1086 fing er einen Blitzkrieg an und zwang Alfons, die Belagerung von Zaragoza (man sehe auf die Karte, wie weit im Norden das liegt!) zu beenden. In der Schlacht von Badajoz startete die Kavallerie der Almoraviden eine Blitzaktion, die Alfons’ Truppen zum Rückzug zwang und den König beinahe das Leben kostete.
    Auf Worten lagert sich, wie auf Bildern, die Zeit ab und verdunkelt sie. Wenn wir »Krieg« sagen oder lesen, können wir das nicht mehr von Panzern, Fernmeldesystemen, Schützengräben, Bombern trennen. Niemand glaubt im Ernst, daß Alfons und Jusuf sich ihrer bedienten, doch eine Feldschlacht kann sich ebenfalls keiner richtig vorstellen. So gesehen kann man sagen, daß die Vergangenheit nicht mehr existiert. Es gibt Bilder von ihr, aber nicht in unserer Bildersprache. Sie sind zu Kunst geworden, oder lieb und teuer, aber fast nie ein Abbild des Grauens, des Chaos, des Gestanks und des Todes einer solchen Schlacht ohne Rotes Kreuz. Italo Calvino hat einen ironischen Versuch unternommen, eine Schlacht Karls des Großen zu beschreiben: die Ritter wie lebende, hilflose Panzer, hineingehoben in ihre Rüstungen, ihre metallummantelten und dadurch schlecht zu wendenden Pferde, die umständliche Methode, sich gegenseitig mit langen Lanzen aus dem Sattel zu stoßen, und die anschließende Ohnmacht eines solcherart umgefallenen menschlichen Panzers, hilflos wie ein auf dem Rücken liegender Käfer, schließlich das verlassene Schlachtfeld mit den Plünderern, die an den Rittern »Rüstungsabbau« betrieben und die ihrer Panzer beraubten Leichen den allzeit wartenden Geiern überließen. Scharmützel bei Dämmerlicht und Morgengrauen, aber keine Scheinwerfer und Suchlichter. Keine Walkie-talkies, und folglich riesige Bannerund Fahnen. Alle diese für uns nicht mehr »les«baren Wappenschilde bezeichneten damals die Ritter, und zwar im Wortsinn: Durch diese Zeichen wußte jeder, wer da, in seiner Rüstung verborgen, ritt, angriff, um Hilfe rief oder starb.
    Langsame Truppenbewegungen, keine Kriegsberichterstatter, langsame Nachrichten. Wie lange dauerte es, bis der Papst und der König von Frankreich von dieser Niederlage erfuhren und wußten, daß sie vielleicht wieder eine Schachfigur verschieben mußten? Alfons war als erster am Zug: Er rief El Cid ( sayyid, as-sid, sidi = arabisch für Herr) zu Hilfe, den größten condottiere aller Zeiten, der für Geld seine Dienste den Christen und den Arabern anbot. Jusuf hatte mehr Zeit, er zog sich nach Afrika zurück und ließ Alfons einen grandiosen Fehler machen: Vom Papst aufgehetzt, setzte er den Taifa-Fürsten immer aggressiver zu, die damit zwischen Hammer und Amboß gerieten: Sie hatten die Wahl, entweder von der christlichen Welt unterworfen zu werden oder ihre literaturliebende, verfeinerte Kultur einer wesentlich primitiveren Sorte Moslems auszuliefern. Letzteres geschah, womit der

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