Der Umweg nach Santiago
tolerante Glanz von Al Andalus verlorenging. Der spanische Islam, mit Dichtern wie Ar Rusafi und Philosophen wie Averroës, der das Erbe des Aristoteles vor dem Christentum eines Thomas von Aquin bewahrt hatte, ein Islam, der sich gegenüber Christen wie Juden tolerant gezeigt und damit in Toledo ein unvergängliches Modell geschaffen hatte, erlosch und geriet in die Hände der Almoraviden und später, als auch diese vom Niedergang der von ihnen usurpierten Kultur erfaßt worden waren, in die der Almohaden, eines noch weit fanatischeren, strenggläubigen Stammes aus dem Atlas. Damit erhielt der Islam das Gesicht, das wir heute noch kennen, das wenig anregende Bild einer intoleranten Religion, die, gestützt auf den Reichtum unseres Jahrhunderts, eine unterschätzte Gefahr für den Rest der Welt darstellt.
Ich fahre steil hinauf zur Festung Albarracín. Keine Wächter, kein Fußvolk mit brennendem Pech auf den Zinnen der Burganlage, nur zwei Nonnen in einem 2 CV mit weißen teigigenGesichtern vom Nie-in-der-Sonne-Sitzen, bestäubt mit dem Mehl Gottes. Die alten Häuser drängen sich unten dicht an die Burg, schutzsuchend, sie stecken wie eine Handvoll lockerer Zähne im gewaltigen steinernen Gebiß der Felsen. Mit dem Auto kommt man hier nirgends weiter, ich habe meins dort, wo einst das Zugangstor gewesen sein muß, abgestellt und wandere durch die engen Straßen. Stille, Geranien auf den Fensterbänken, eine Uhr, und hoch über mir die uneinnehmbaren Mauern, die jetzt eine Leere umschließen, durch die der Wind pfeift. Die kahle Landschaft liegt tief unter mir. Ich trinke ein Glas schwarzen Wein in einem dunklen Keller. In der Kirche ist es kühl, in dem kleinen Museumsraum daneben sitzt ein kleiner Priester mit einer traurigen Brille auf der Nase und liest die progressive Tageszeitung. Über einem Stuhl hängt eine graue Strickjacke, es kann kalt werden in Albarracín. Wir sehen uns an, haben nichts zu sagen. Ich gehe an den Schätzen entlang, ein Kelch, ein Buch, verschossene und ausgebesserte Brüsseler Wandteppiche, und sehe an den Schultern des gebeugt dasitzenden Lesenden, daß hier wenig Leute herkommen. Ich kaufe das Büchlein mit den Federzeichnungen der Kathedrale (einst war dies ein mächtiger Ort), des Kastells und der hohen kastilischen Häuser, die über dem Abgrund hängen, und merke, wie er meine Pesetas in das Holzkästchen fallen hört. Es wird hier sein wie überall: Einst waren diese hochliegenden Dörfer durch ihre Lage geschützt, jetzt sind sie dadurch abgeschnitten. Ein kühner Gedanke: Würde man Spanien vorübergehend mit Riesenkraft über die Pyrenäen ziehen und auf Frankreich legen, so würde vieles von dem, was jetzt für fast jeden verborgen ist, zur großen europäischen Schatzkammer gehören. Der Fluch Spaniens (andere sagen, sein Segen) ist diese endlose Küste, die alles an sich saugt, weil die Sonne über ihr steht. Wenn Albarracín an der Côte d’Azur läge, würde es vor Touristen ersticken wie St.-Paul-de-Vence, also muß ich eigentlich froh sein, daß es nicht so ist, aber andererseits kann ich es nicht ertragen, daß es eine Tagesreise von Barcelona entfernt eine völlig unbekannte Welt gibt, an der jedes Jahr Millionenvon Sonnenanbetern vorbeirasen, sofern sie sie nicht überfliegen.
Schon mal was gehört von Sigüenza, San Baudelio, El Burgo de Osma, Albarracín, Santa María de la Huerta? Dort riecht es nicht nach Sonnenöl, sondern nach wildem Rosmarin, das Essen ist einfach und der Wein billig, es ist ein Revier für den Individualreisenden, und hie und da begegnet man ihnen auch, älteren Ehepaaren mit dicken Reiseführern oder einem ausgestorbenen jüngeren Menschenschlag mit Skizzenblock. Alle Welt lamentiert, daß Ruhe und Stille heutzutage nirgends mehr zu finden seien. Nun, dort gibt es noch genug, Tonnen Leere, Jahre Ruhe, Hektoliter Stille, und eine so gut erhaltene Vergangenheit, als würden die Bewohner von einer Internationalen Kommission dafür bezahlt, damit sie alles so lassen, wie es vor tausend Jahren war. Wer hier reist, muß den Begriff Ereigniszeit aufgeben, es darf nicht mehr wichtig sein, wie weit er an diesem Tag kommt, er muß mit dem Dorfgasthof vorliebnehmen können und sich von anderen Vorstellungen zeitlicher Dauer gefangennehmen lassen. Klima, Halsstarrigkeit, die Gnade des Schicksals und Abgelegenheit im wörtlichen Sinn haben in manchen Gegenden Spaniens vieles erhalten, mit der Folge, daß man eine Weile in der Illusion leben kann, die
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