Der Umweg nach Santiago
Bildschirm gezeigte Geschehen, überall, täglich. Im Vergleich dazu scheint die spanische Geschichte des elften Jahrhunderts von monolithischer Einfachheit zu sein. Die Verschmutzung in Japan hatte nichts damit zu tun, das Seehundsterben ließ die Einwohner von Zaragoza kalt, ebenso wie die illegale Einwanderung von Mexikanern nach Kalifornien, eine neue Militärjunta von Opiumschmugglern in einem südamerikanischen Bergstaat, die Wahlen in Niedersachsen, die Demonstration von Hausbesetzern in Oslo, die Hinrichtung von Premierminister Trudeau in der heiligen Stadt Ghom, die Krönung eines Polen zum Ayatollah der anglikanischen Kirche in Amerika. Mit weniger Informationen wäre die Welt auf essentiellere Weise verwickelt. Aber ich befinde mich im Augenblick in der essentiellen Verwirrung von 1031, nicht in der meiner eigenen Zeit.
Essentielle Verwirrung setzt bereits ein, wenn zwei Dinge verwirrt sind: die streitenden Parteien. Im elften Jahrhundert waren dies die Muslime und die Christen. Der größte Teil Spaniens wurde von den Taifakönigreichen beherrscht. Jedes davon gehörte zu einer Partei, einem Stamm, einer Familie – spanisch-arabisch, slawisch, berberisch. Nachdem all diese Fraktionen nicht mehr von Córdoba zusammengehalten wurden, operierten sie unabhängig, es waren Länder : Zaragoza, Toledo, Badajoz, Sevilla, Granada, Almería, Denia. Toledo umfaßte die gesamte Mitte Spaniens, die meisten anderen waren kleiner. Die Taifas waren reich, aber militärisch schwach. Ihre weit »roheren«christlichen und westgotischen Nachbarn im Norden nutzten das aus. Sie »beschützten« die muslimischen Staaten im Süden im Tausch gegen Gold. Dadurch entwickelte sich der Norden Spaniens zusammen mit Flandern und dem Norden Italiens zum reichsten Gebiet Europas. Zum erstenmal hat das christliche Spanien nun auch die Zeit und die Muße, sich mit dem übrigen Europa zu beschäftigen, und das hat zur Folge, daß der Pilgerweg nach Santiago de Compostela sicherer und damit immer wichtiger wird.
Jetzt sind wir tausend Jahre weiter, und ich bin schon eine Weile von Barcelona nach Santiago unterwegs. Man mag es Pilgerfahrt oder Meditation nennen, jedenfalls komme ich, aufgrund der Abstecher, Umwege und des Reflektierens, nur langsam voran, sind es doch zwei Reisen, die ich mache, eine in meinem Auto und eine durch die Vergangenheit, die durch Festungen, Kastelle, Klöster aufgerührt wird, ebenso wie durch die Dokumente und Geschichten, auf die ich dort stoße.
Am Ende des elften Jahrhunderts wurde Kastilien das wichtigste christliche Königreich. Alfons VI . (1065-1109) ruft zu den ersten »inneren« Kreuzzügen auf. Seine Untertanen sind Christen, doch ein großer Teil hängt dem westgotischen Ritus an, bis Rom ihn verbietet, wodurch Spanien seine Verbindung zum Alten Testament verliert, da ein großer Teil der westgotischen Messe aus Bibellesungen bestand. Derselbe König öffnet die Tore »seines« Spaniens weit für die Mönche von Cluny, die die großen Klöster in Sahagún und San Juan de la Peña entlang dem Jakobsweg nach Santiago gründen. Noch immer ist das Gesicht des romanischen Spaniens durch Bauten jener Zeit geprägt. In der Umgebung dieser Klöster siedeln sich Bürger an, Franzosen und Italiener kommen nach Spanien. Französische Kaufleute ließen sich entlang dem Pilgerweg nieder, Brücken und Straßen wurden gebaut und verbessert, der Norden Spaniens verband sich immer enger mit seinen christlichen Nachbarn.
Im muslimischen Süden entwickelten sich die Dinge ganz anders. Al Andalus hatte einen wesentlich höheren Lebensstandard und eine weitaus höhere Kultur als die muslimische Bevölkerung Nordafrikas und Arabiens. Den bösen Fanatismus der Gaddafis und Khomeinis gab es auch damals schon – der Islam war stets eine fanatische, puristische Religion, aber in Spanien hatte seine Geradlinigkeit an Schärfe verloren. Die Muslime von Al Andalus zeigten sich den Juden und Christen gegenüber tolerant, die Frauen waren freier, Kunst und Literatur, vor allem die Poesie, blühten, und die Wirtschaft florierte, so daß die Taifas in der Lage waren, dem christlichen Norden gewaltige Summen an Gold zu zahlen. Die Rivalität der einzelnen Fürsten untereinander war groß, Dichter – wo ist diese Zeit geblieben? – standen in solch hohem Ansehen, daß um sie gekämpft wurde; Architektur, Goldschmiedekunst, Musik, Astronomie, Philosophie verliehen den arabischen Höfen großes Prestige und im islamischen Ausland
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