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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Welt sei doch nicht so chaotisch, wild und flüchtig, wie Zeitung und Bildnachrichten einem weismachen wollen, es gebe Konstanten, die, mögen sie sich auch aus Einzelleben zusammensetzen, über das zufällige Schicksal hinausgehen. Dieses Land ist alt, hat viele Kriege und Katastrophen erlebt, große Bewegungen, Grausamkeit, bittere Gegensätze, letzteres noch in diesem Jahrhundert. In all diesen Dramen sind Menschen zugrunde gegangen, die glaubten, mit ihnen ginge alles zugrunde, und doch findet der Reisende heute Landschaften, Monumente, Einstellungen, die unverändert geblieben sind. Es sind immer Zeitgenossen , die die Veränderungen übertreiben, und in dieser Übertreibung werden sie (wiederum) durch die Medien bestärkt, die, um weiterexistieren zu können, die Veränderung verkaufen müssen, da das Konstante keinerlei Reiz hat.Dafür gibt es schließlich andere Medien: Museen, Bücher, Kathedralen.
    Aus der Luft sieht die Burg von Sigüenza sehr menschlich aus: ein kühles Parallelogramm im ungeordneten Kurvenreichtum der Natur. Wenn man damals hätte fliegen können, dann wäre diese Burg so verwundbar geworden, daß man sie erst gar nicht hätte bauen müssen. Der spanische Staat hat jetzt einen Parador daraus gemacht, ich schlafe zwischen Zinnen und Schießscharten, leere Rüstungen stehen dort, wo die Gänge aus rohem Stein um die Ecke biegen, und in einem unendlich großen Saal scheint das matte blaue Licht des Fernsehers. Was ich sehe, ist eine Folge der Serie »Die Geschichte des Stierkampfs«. Bilder eines Kampfs aus Mexiko, 1916. Flimmernde Schwarzweißbilder, kleine Männer, die sich zu schnell bewegen, ein idiotisch trippelnder Stier, kein Ton, frivol über die Landschaft eilende Wolken, wie soll ich das ernst nehmen? Ich muß konzentriert diese Geschwindigkeit in ein langsameres Tempo zurückübersetzen, um nicht ständig loszulachen. Und doch war der Kampf für den Stierkämpfer wirklich gefährlich, er wurde wirklich verletzt, und dieser schwarze Saft, der etwas zu schnell aus seiner aufgeputzten Kleidung herausspritzt, war echtes Blut. Bei Filmbildern vergangener Kriege passiert das gleiche. All die komischen Männchen, die mit den hölzernen Bewegungen überdrehter Püppchen aus schlammigen Schützengräben klettern, ein Stück weit gebeugt vorstolpern und dann plötzlich einen Luftsprung machen und umfallen, tot. Die Idiotie der Bildbeschleunigung nimmt ihrem Tod die Wirklichkeit, und uns wird wahrscheinlich das gleiche passieren – wenn die Geschwindigkeit stimmt, wird wohl etwas an der Farbe oder dem Geruch verkehrt sein. Das Drama muß, wenn es wirklich passiert ist, stillstehen, es muß im Stillstand gezeigt werden, sonst steht es nicht fest . In Bildern Dargestelltes darf sich bewegen, doch was sich bewegt hat, muß als Stillstand gezeigt werden. Eine unhaltbare These, und nur aus dem Grund aufgestellt, um zu sagen, daß die Belagerung einer Stadt in der romanischen Bibel von San Isidoro in León mich in ihrem primitiven Stillstandmehr berührt als die Schlacht von Verdun in alten Filmen, weil diese mich nun einmal unausweichlich an Charlie Chaplin und Buster Keaton erinnern. Dreizehn grellbunte, statisch gemalte Menschen müssen die ganze Belagerung darstellen. Wer tot ist, liegt am Boden, eine Hand ragt noch aus dem emblematischen Rot der Flammen heraus, die Schwerter sind gezückt, ein Schild wird über die Zinnen gehoben. Tod, Krieg und Zerstörung kann ich jetzt selbst einsetzen.
    Die Kathedrale von Sigüenza
    Früh am Morgen stoße ich das Fenster in meinem Zimmer auf, aber es ist kein Fenster, sondern ein Guckloch. In dem kleinen Viereck sehe ich die verlassene Welt, kein Feind weit und breit. Ich höre die Glocken der Kathedrale, selbst die reinste Festung, die ich in der Nacht als dunklen Schlagschatten habe dastehen sehen. Erste Überraschung: Als ich durch das Südportal eintrete, muß ich gleich eine Treppe hinunter . Das Gebäude liegt halb in den Boden eingebettet und ist folglich viel höher, als man von außen denken würde. Ruhe und Raum, Säulen wie gigantische versteinerte Bäume. Mit einer kleinen Gruppe Spanier folge ich dem Führer, einem blassen, düsteren Mann, der gut zu erzählen versteht. Was mir auffällt, ist die Aufmerksamkeit der anderen. Meiner Einschätzung nach sind sie, was man früher Handwerker nannte, sie fahren mit den Händen über das Holz, streicheln den Stein, stellen Fragen zu Stilepochen, bewundern fachliches Können und meinen, das

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