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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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polychrome hölzerne Altarbild von Covarrubias müsse dringend abgestaubt werden – recht haben sie. Bei der berühmten Skulptur des Doncel werden sie wie ich still.
    Der Doncel war ein Schildknappe von Isabel la Católica, der 1486, während der Belagerung Granadas, fiel. Die Königin ließ diese Skulptur von ihm anfertigen, und da sitzt er, Don Martín Vázquez de Arce, und liest, unbekümmert um seinen eigenen Tod, ruhig und für die Welt verloren in einem steinernen Buch. Die Figur ist realistisch und geheimnisvoll. Sie liegt, halb aufgerichtet, auf den rechten Ellenbogen gestützt, das gepanzerte linke Knie etwas hochgezogen, mit leicht schräg nach unten gerutschtem Dolch, eine kniende Figur als Wächter zu ihren Füßen. Imselben Raum liegen seine Eltern auf dem Rücken nebeneinander, die Hände auf der Brust gefaltet, die Füße an wachende Hunde gestützt. In der Wand, auf der Seite liegend, der Großvater. Mittelalterliches Rittertum, vertrautes Beisammensein der Familie, alle sprechen jetzt leiser, man hat das Gefühl zu stören. Hinter dem Führer schreiten wir den Zisterziensergrundriß aus dem elften Jahrhundert ab, vorbei an romanischen Fenstern unter in diesem so robusten Bau zarten, hohen gotischen Bögen. Mittelalterliche Gräber, platereske Mauerteile, ziseliert, als wären sie wirklich in Silber getrieben anstatt in harten, widerstrebenden Stein gemeißelt – und all diese verschiedenen Stile werden durch die weihevolle Ruhe des Gebäudes zusammengehalten, eine der schönsten Kirchen, die ich kenne.
    Plötzlich beginnen, mit großem Getöse, Glocken zu läuten. Der Führer, der auch der Küster ist, unterbricht den Rundgang. Ein paar Gläubige treten ein, Kommata auf einer leeren Seite, und ich setze mich zwischen sie. Kanoniker kommen angesegelt, lange schwarze Röcke, rote Umhänge um die Schultern. Dies hier, so drückt ihre Haltung aus, gehört ihnen. Einige wirken abwesend, andere lassen einen eitlen Blick über die leeren Bänke schweifen wie Opernstars, die der Ansicht sind, es sei nicht genug Publikum da. In ihrem schallenden Gesang steckt routinebedingter Verschleiß. Eine scharfe spanische Stimme spricht die Worte des Gottes von Israel. Ich verstehe Bruchstücke von Anweisungen zum Schlachten, Opfern und Essen, die geketteten Vorschriften der Orthodoxie, diesen Teil des Tieres schon, diesen Teil nicht, und das sollt ihr tun, und so spreche Ich, der Herr, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Bewahrte Worte, vor Jahrtausenden in einer Wüste erdacht. Ich spüre den Schauder und Widerwillen meiner Internatszeit, stehe auf und gehe ohne Führer in die Sakristei. Während die gregorianischen Klänge wie von weit her aus einer Höhle hallen, stehe ich wie angenagelt da: Hunderte aus dem Stein gehauene Köpfe blicken von dem Tonnengewölbe auf mich herab, eine Orgie von Gesichtern, ernst, lachend, von Rosen umgeben, Köpfe von Gelehrten, Kirchenvätern, Heiligen,bärtige Köpfe, frontale, ausweichende, blinde, nachdenkliche, schlafende, singende, sprechende. Ich fühle mich jetzt wirklich fremd, allein in dieser Sakristei, in die ich nicht gehöre. Von außen Glockengebimmel und uralter Gesang, über mir ein Volk von Köpfen. Mit meinem eigenen, von der verkrampften Haltung schwindlig gewordenen Kopf schaue ich in die Augen von Kriegern, Edelleuten, Priestern, bis das gregorianische Rufen dort in der Ferne langsam wie Lachen klingt und gleichzeitig aus diesen Köpfen zu kommen scheint, ein wahnsinniges, verlangsamtes Gelächter, das mir, als ich schon lange wieder durch die kahlgeschorenen Felder fahre, immer noch in den Ohren klingt.
    1982

N OCH IMMER NICHT IN S ANTIAGO
    Meine Reise ist ein Umweg aus lauter zusammengesetzten Umwegen geworden, und sogar von diesen lasse ich mich noch fortlocken. Es ist möglich, daß ich dieses Jahr gar nicht mehr bis Santiago komme. Der mittelalterliche Pilger hatte es, obgleich nur in dieser Hinsicht, leichter. Wenn er von Norden kam, überquerte er am Col du Pourtalet oder bei Roncesvalles die Pyrenäen. Die Karte der Pilgerwege jener Zeit gleicht einem Flußdelta, von allen Seiten fließen die Wege zusammen, bis sie schließlich bei Puente la Reina den einen Großen Weg bilden, den Camino de Santiago, der vom Norden Spaniens durch die trockene Hochebene und die kahlen Berge Kastiliens über den Paß Cebrero zum so herbeigesehnten Ziel führte. Reminiszenzen in Sprache und Stein gibt es noch immer, Kirchen, Gasthöfe und Ortsnamen halten wie eine kostbare Schnur den

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