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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Gedanken an eine für uns unvorstellbare, passionierte Frömmigkeit wach, die die gesamte Christenheit jahrhundertelang in jenen fernen, windumtosten Winkel Galiciens trieb. Erst wenn man sich ein wenig damit befaßt, wird einem das volle Ausmaß dieses brennenden Eifers klar. Die Menschen ließen schlichtweg alles stehen und liegen, um in dunklen, gefährlichen Zeiten zu Fuß durch halb Europa zu ziehen. Den Spuren einer Legende folgend wurden die Pilger selbst zur Legende. Das einzige, womit sich das annähernd vergleichen läßt, scheint mir die von allen Moslems so gewünschte Pilgerfahrt nach Mekka zu sein, doch dabei kommen Schiffe, Flugzeuge und Busse zum Einsatz, auch da gilt, daß, wer länger lebt, weniger Zeit hat.
    Will man das Wesen der Wallfahrt nach Santiago begreifen, muß man den Menschen des Mittelalters aus dem so bequemen romantischen Bild lösen, das wir von ihm haben (sofern wir überhaupt eines haben). Die Gesellschaft, in der er lebte, war eine geistige Einheit, Reliquien von Heiligen und Märtyrern machten einen für uns nicht mehr nachzuvollziehenden, wesentlichen Teil davon aus. Diese heiligen Relikte verehrend und suchend, zog er von Land zu Land, von Kirche zu Kirche, eine betende, beseelte Menschenmenge in ständiger Bewegung. Im Jargon unseres Jahrhunderts bezeichnen wir so etwas als soziales, politisches oder religiöses Phänomen. Politisch, weil diese Bewegung den nichtmoslemischen Teil Spaniens dem christlichen Europa näherbrachte und den Auftakt zu jenem anderen Bindeglied der europäischen Christenheit, den Kreuzzügen, bildete; sozial wegen der internationalen Kontakte und auch wegen dem, was die Pilger auf ihrem Weg bewirkten und im Bereich des Handels wie der Kunst mitbrachten; religiös, weil durch diese Bewegung – das buchstäbliche Bewegen und den kollektiven Gedanken, der dahinterstand – die Teilnehmer faktisch eine metaphysische Idee über ihr materielles Dasein stellten. Der Historiker Labande definiert den mittelalterlichen Pilger als »einen Christen, der sich zu einem bestimmten Augenblick entschlossen hatte, sich an einen bestimmten Ort zu begeben, und die gesamte Organisation seines Lebens dieser einmal beschlossenen Reise unterwarf«. Nicht wenig.
    Hinweisschild am Pilgerweg nach Santiago
    Und ich? Ich bin noch lange nicht am Ziel, nach dem Besuch von Kirchen und Kastellen in Katalonien und Aragonien bin ich jetzt in Kastilien gelandet und fahre von Sigüenza nach El Burgode Osma. Aus der roten Straße wurde eine gelbe, aus der gelben eine weiße, und jetzt stehe ich auf einer dieser nicht numerierten weißen in einer nur vom Wind bewegten Stille und sehe, wie eine rostfarbene Sandspur auch von dieser Straße abzweigt. Wo führt sie hin? Der letzte Ort, durch den ich kam, hieß Barcones. Vor sanft geschwungenen Hügeln stehen Häuser mit Wänden von nicht mehr als einem Meter Höhe. Lehm, Schilfdächer, Schweine im Matsch, niemand zu sehen außer einem kleinen Jungen, der »hijo de puta, Hurensohn« in mein Auto schreit und dann wegrennt. Und jetzt? Ich folge der Spur ein Stück weit. Der Boden wird härter, eiserne Linien durchziehen ihn, irgendwann einmal hat man hier vielleicht gebaut, aber jetzt sind nur scharfkantige, harte Pflanzen mit Stacheln zu sehen, graublau, niedrig, gemein. Wer hat etwas davon? Eiserne Nadeln, Haken, Folterinstrumente, wozu gibt es diese Pflanzen? Die Spur, die nirgendwo hinführt, sackt ein, ist mit Löchern durchsetzt, ich habe Angst steckenzubleiben und lasse mein Auto stehen. Jetzt ist auch das Geräusch des Motors verschwunden. Die Stille, die ich nur sehen konnte, ist nun auch zu hören. Es ist eine merkwürdige Stille, wie ich sie von nirgendwoher kenne. Keine Laute von Tieren, nicht einmal ein Vogelflug, nur der Wind, der die heiße Luft über die Ebene schleppt und dabei an die Messer dieser vertrockneten Pflanzen rührt. Aber auch dieses Geräusch ist Stille. In der Ferne senkt sich die Erde ein wenig, dort verschwindet die Spur. Ich will sehen, wohin sie führt, und wie ein Mensch in Not gehe ich mit mir allein in die Ferne. Dort bietet sich mir der nächste Ausblick, doch es ist der gleiche, den ich bereits gesehen habe. Ich bin stur, oder verrückt, ich gehe weiter. Irgend etwas muß kommen. Plötzlich wird das Gelände abschüssiger. Die Spur biegt um eine Ecke, ich erkenne Ziegenkot. Dann sehe ich sie, zwei Hütten, aus Soden gebaut. Davor stehen, aus einem großen Holzklotz gehauen, zwei Tröge. Ich rufe, aber es

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