Der Umweg nach Santiago
kommt keine Antwort. Eine Wolke großer schwarzer Fliegen steigt vom abgefressenen Kadaver eines Kaninchens auf. Sie macht ein gräßliches, sirrendes Geräusch, als fahre jemand einmal mit dem Bogen über ein bösartigesCello. Dann senkt sich die Wolke wieder, die Fliegen setzen ihr Werk fort, es ist ihr Auftrag. Langsam gehe ich auf die Hütten zu. Ich denke noch immer, daß jemand dasein wird, aber als ich hineingehe, ist niemand da. Auch keine Tiere. Über einem Balken hängt eine blutige Schafshaut, frisch abgezogen. Spuren eines Feuers. Es ist dunkel zwischen den Erdwänden. Niedrig, ich muß mich bücken. Es muß der Unterschlupf für eine Herde samt Hirten sein. In dem hartgetretenen Schlammboden Tausende geglätteter, glänzender Hufspuren. Hastig, als könnte ich doch noch ertappt werden, gehe ich hinaus. Das Schilfdach wird von ein paar Stämmen gestützt. Es kann aus jeder Zeit stammen, fünfhundert, tausend, noch mehr Jahre alt. Die Pflanzen beißen sich mit ihren gezähnten Haken an meinen Knöcheln fest, als ich zu der idiotischen Form meines Autos zurückgehe.
Man kann von diesen Landschaften nicht in einem fort sagen, sie seien leer, auch wenn es so ist. Vielleicht fällt es mir stärker auf, weil ich aus einem Land komme, das an Übervölkerung krankt, aber es hört nie auf, mich zu treffen. Das wäre schlecht ausgedrückt, wenn es nicht genau das wäre, was ich ausdrücken will: Er trifft mich, wie ein Schlag oder ein Schuß. Nicht den ganzen Tag über, aber immer wieder. PENG , und schon empfindet man es erneut, dieses Fehlen von Menschen angefertigter Gegenstände, das Nichtvorhandensein von Bewegung. Es ist, als könne diese Weite sich nur durch etwas ausdrücken, das die gleiche Maßlosigkeit kennt, Zeit. Damit gerät man in die Nähe von »Und ewig singen die Wälder«, aber so ist es nun einmal, diese Landschaften vermitteln einem ein Gefühl der Ewigkeit, sich in ihnen aufzuhalten bedeutet, schon lange existiert zu haben, für immer so weiterfahren zu müssen.
Vom Kloster San Baudelio de Berlanga ist nichts mehr übrig als eine kleine mozarabische Kirche in der Nähe von Berlanga de Duero. Ich bin früher bereits dort gewesen und erinnere mich noch, daß der Aufseher damals glaubte, mich schon einmal gesehen zu haben. Jetzt sagt er es wieder, aber jetzt stimmt es auch. Es ist derselbe Mann, gegerbt, verwittert, einsam. Das Kloster liegt fernab aller Routen, das Dorf, in dem er wohnt, zehn Kilometer entfernt. Vom Hügel aus blicken wir gemeinsam auf die Landschaft. »Dort irgendwo«, sagt er, aber es ist nichts zu sehen. Hier ungefähr hatten die Einsiedler ihre Hütten, doch auch davon ist nichts mehr übriggeblieben. Er kommt morgens und geht abends und wartet den ganzen Tag auf Besucher. Es ist sehr still hier, er muß ein Auto schon von weitem hören. In der kleinen Kirche ist es weiß und kühl. Eine Säule mit ausfächernden Rippen wie eine versteinerte Palme stützt das Gewölbe. Spuren von Wandmalereien, Schemen von Tieren, Menschengesichter mit ovalen, weit geöffneten Augen, in deren Mitte die Pupille kreisrund sitzt und mich mit byzantinischem Blick anschaut. »Früher war hier viel mehr«, sagt er. »Eines Tages, vor sechzig Jahren, tauchte ein Amerikaner auf. Er wollte die Kirche sehen. Vielleicht hatte er davon gehört, von den Wandbildern. Er wollte sie kaufen, und die Bauern haben sie ihm verkauft.« Ich schaue in das kleine Buch, das er da liegen hat. New York, Boston, Indianapolis. Schwarzweißreproduktionen vom Einzug in Jerusalem , vom Letzten Abendmahl. Irgendwann von Unbekannten hier in dieser verlassenen Ebene auf die Wände ihres Klosters gemalt, jetzt aus dem Zusammenhang ihrer Zeit, ihrer Bedeutung, ihrer Umgebung gerissen und in amerikanischen Museen aufgehängt. Als Gegenstände, als Kunst. Es hat etwas Trauriges, Verwaistes. Was danach noch an bedeutenden Stücken übrig war, hängt im Prado. »Sonst wäre es doch nur gestohlen worden«, sagt er, »wir können es nicht Tag und Nacht bewachen.«
Eine Strecke des Pilgerwegs nach Santiago – Puente la Reina
Es ist ein Refrain, den ich auf dieser Reise noch oft zu hören bekommen werde. Überall in Provinz- oder Diözesanmuseen hängen bzw. stehen Bilder, Figuren, Altaraufsätze, Altarbilder aus kleinen verlassenen Kirchen. Wie wird etwas, das doch in gewisser Weise ein Gebrauchsgegenstand war, zu einem Kunstobjekt? Gebrauchsgegenstand: ein Bild, das den Menschen etwas über ihren Glauben erklären soll. Diese
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