Der Umweg nach Santiago
Wandbilder erzählten den Menschen, die in diese Kirche kamen und nicht lesen konnten, eine Geschichte, die Figuren waren da, um verehrt und angefleht zu werden. Jetzt stehen sie in Sälen, inmitten ganzer Reihen ähnlicher Figuren. Die Geschichte auf den Wandbildern sagt den meisten Besuchern nichts mehr, nun zählt allein die Form. Nur der Kunststudent kennt noch die Symbole der vier Evangelisten, weiß noch von den Ältesten vom Jüngsten Gericht, kennt noch die Attribute der Märtyrer. Religion wird Kunst, Bedeutung wird Form, Geschichten werden Figuren, die nur noch sich selbst bedeuten.
Ich gehe noch eine Weile in der kleinen Kirche herum, versuche, mir in dem leeren Raum die Gestalten von Einsiedlern vorzustellen. Dann trete ich wieder durch die hufeisenförmige arabische Tür ins Freie und fahre langsam den Hügel hinunter. Im Rückspiegel sehe ich, wie der alte Mann mir nachschaut. Später werde ich einmal im Prado oder in Indianapolis stehen und bei dem, was ich dort sehe, zurückdenken an diese weißen Wände und die Vision eines niedrigen, verwitterten Gebäudes auf einem gegerbten Hügel haben und eines alten Mannes, der einem Auto nachschaut, bis es aus seinem Blickfeld verschwunden ist.
Ich habe Couperus’ Stimme nie gehört. Er war tot, lange bevor ich Ohren hatte, und ich weiß nicht, ob der Phonograph den Klang dieser Stimme je aufgenommen hat. Wie es heißt, war es ein hoher, affektierter Klang. Aber ich kenne seine zahllosen Reiseerzählungen und meine zu wissen, wie es sich bei ihm anhören würde: »Leser, du hast mich auf einer langen Reise begleitet. Wir haben Schätze gesehen, Kirchen und Kathedralen, Landschaften und Museen ... lange könnte ich dir von all dem erzählen, was mich berührte ... doch es würde zu lang werden ... zuviel habe ich gesehen ...« Es ist nicht mehr modern, seinen Leser anzureden, aber einmal würde ich mir diese hohe Stimme gern ausleihen, um so etwas sagen zu können. Noch zehn Geschichten könnte ich von dem erzählen, was ich auf dem Weg nach Santiago de Compostela gesehen habe. Staub läge auf der Jahreszahl dieser Reise, bevor ich mit meiner Geschichte am Ende wäre, die Nachrichten des Tages wären vergilbt, aus dem Sommer wäre Winter geworden und aus diesem wieder Sommer, und immer noch wäre ich nicht fertig damit, die unbekannte Schatzkammer Spaniens ist unerschöpflich.
Meine Reise führt weiter über El Burgo de Osma. Dort gibt es eine Kathedrale und ein Museum. Ein böser Pfaffe führt mich unwirsch herum, leiert seine Litanei herunter, gönnt mir keine Zeit. In einer Vitrine liegt eines der schönsten Bücher der Welt. Aufgeschlagen ist eine Seite mit der mappa mundi , der Weltkarte. Gern würde ich diese Seite umschlagen, das Buch lesen, aber die Vitrine ist verschlossen. Ich blicke auf die Karte. So sah die Welt also im Jahr 1086 aus. Ein verzierter Kreis auf einer Pergamentseite, dann ein welliger Wasserstreifen, in dem Fische schwimmen, dann hellere, ebenfalls gewellte plumpe Formen, auch sie von Wasserbahnen durchschnitten, beschrieben mit westgotischen Lettern, vollgezeichnet mit Köpfen, Türmchen, einem merkwürdig durchkreuzten rotumrandeten Viereck, einem roten Ball, Sägezahnzacken, die Berge darstellen mögen. Der Reiseführer, den ich in der Kirche gekauft habe, wird pedantisch und weist meine unbedarften Augen auf die Komplikationen des elften Jahrhundertshin: Dieser Codex Beato ist karolingisch in Kolorit und Ausschmückung, arabisch durch das Gelb und Elfenbein und die geometrischen Motive, lombardisch durch die ineinander verschlungenen Arabesken und die Tiermotive, irisch durch die spiralförmigen Tressen, islamisch durch das Vorherrschen der Farben Rot und Schwarz, während in der mozarabischen Stilisierung orientalische Einflüsse erkennbar werden. Darf ich jetzt nicht wenigstens eine Seite weiterblättern? Nein. Ich lasse die anderen Dinge sein, was sie sind, und sinniere noch ein wenig über dieser Karte. Seltsam, daß eine Karte, die in keiner Weise die (geographische, physische) Wirklichkeit der Welt wiedergab, so viel über die geistige Wirklichkeit jener Zeit aussagen kann. Ich meine damit: Die Kontinente lagen schon damals dort, wo sie auch nach heutigem Wissen liegen. Der Mann, der diese Karte anfertigte, wußte von mindestens drei Erdteilen nicht einmal, daß es sie überhaupt gab. Wir wissen heute zumindest, wie weit die gegenseitige Beeinflussung in jener Zeit ging, daß die Welt bereits eine Welt war, daß man
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