Der Umweg nach Santiago
miteinander sprach, die Kunst anderer sah, daß Künstler und Handwerker reisten und sich gegenseitig beeinflußten.
In der Gegend, durch die ich jetzt fahre, klingen die Ortsnamen wie ein Gedicht. Hontoria del Pinar, Huerta del Rey, Palacios de la Sierra, Cuevas de San Clemente, Salas de los Infantes, Castrillo de la Reina ... Paläste des Gebirges, Garten des Königs, Höhlen des heiligen Clemens, Säle der Königskinder, Lager der Königin. Zum hundertsten Mal verändert sich die Landschaft, die Straße folgt sich schlängelnd einem unsichtbaren kleinen Fluß, die Felsen sind grau, versteinerte Altmännerschädel, die aus bizarren grünen Bäumen ragen, italienische Romantik. Ich halte beim Kloster Santo Domingo de Silos. Irgendwann einmal, in einem Buch über romanische Baukunst, habe ich ein Foto des Klosterhofs gesehen. Etwas an diesem umschlossenen Garten, der völligen Regelmäßigkeit, diesem heiligen Viereck, fiel mir auf. Eine Unstimmigkeit. Die kleinen Säulen, die die romanischen Bögen mit ihren feingemeißelten Kapitellen stützen, folgten einander in Einzel- oder Doppelreihen wie in einem geweihten Hain, dochirgendwo wurde an dieser Ordnung gerüttelt, die Welt hatte einen Knacks bekommen, irgend etwas stimmte nicht. Es dauerte vielleicht eine Sekunde, bis ich sah, woran es lag, aber daß ich diese eine Sekunde lang zögern mußte, hatte sechshundert Jahre zuvor jemand geplant. Drei der Säulen waren (sind) durchgebogen, vertikal umeinander geschlungen, sie fallen, halten sich aber gegenseitig gerade noch im Gleichgewicht, und eigentlich führen sie ein Tänzchen auf. Aber damit ist die ganze erhabene Regelmäßigkeit des Gebäudes ins Wanken geraten, es hat fast etwas von einem Kommentar, einer Unterminierung. Ich fand es unglaublich faszinierend, wie jemand mit einem solch simplen Mittel die Welt ins Wanken bringen konnte.
Mit einem Gefühl der Erwartung fahre ich jetzt in Richtung Silos. Das alles hatte ich schließlich nur auf einem Foto gesehen. Wie würde es in Wirklichkeit sein? In demselben Buch befanden sich Zeichnungen und Beschreibungen von Kapitellen und Reliefs, es gab sehr viel mehr in Silos zu sehen als nur drei geknickte Säulen. Ich komme gerade rechtzeitig für die Führung. Ein ernster Student beschreibt Kapitell für Kapitell, persische Vogelmotive, arabische Flechtformen, ich sehe es und finde es wunderschön, aber die ganze Zeit halte ich Ausschau nach meinen Säulen. Inmitten des unglaublichen Reichtums dieser Kapitelle kommt das fast frivolem Unsinn gleich, doch das schreibe ich eben dem Spanischen in mir zu, es muß da ein absurdes Element geben, etwas, das widerspricht. Und dann sehe ich sie und merke, wie ich denke: Es stimmt also wirklich. Man kann ein Gebäude sich selbst widersprechen lassen, an seiner Erhabenheit eine Korrektur anbringen, das Gleichgewicht ins Wanken bringen, das Perfekte suspekt machen. Für einen Augenblick gerät so das gesamte Universum aus dem Takt, und das Ergebnis ist: Erleichterung. Ähnlich geht es mir bei einem Bild irgendwo an der Decke. Ein Wolf tötet einen Esel, zwei Wölfe begraben das tote Tier, und auf dem nächsten Bild liest der Mörderwolf die Messe am Grabe des Esels. Dieser primitive Wolf, auf den Hinterbeinen, die große weiße Hostie in den Pfoten, das Maul zum Verzehr weit geöffnet,vor einem Altar stehend, es hat etwas von Spott und Sakrileg. Wie spanisch diese Verspottung ist, weiß ich nicht – eine ähnliche Darstellung soll es im Straßburger Münster geben –, doch was ich am selben Abend achtzig Kilometer weiter, in Santo Domingo de la Calzada, zuerst höre und dann sehe, kann ich mir außerhalb Spaniens nicht vorstellen.
Ich habe einen leichten Bogen nach Osten geschlagen, um so wieder auf den Pilgerweg zu gelangen. In Santo Domingo steht ein ehemaliges Hospiz für die Wallfahrer, das zu einem Hotel umgebaut worden ist. Es ist schon halb dunkel, als ich die Stadt erreiche. Hier zogen sie entlang, zerlumpt oder nicht zerlumpt, die Jakobsmuschel als Emblem auf dem weiten Umhang, den Stock in der Hand. Ob Hin- oder Rückweg – wenn sie hier waren, hatten sie noch einen monatelangen Marsch vor sich. Ich denke an ihre Lieder, ihre Schritte, ihre Stimmen, ihre unübersetzbare Frömmigkeit. Im großen Saal des Gasthofs steht eine leere Rüstung, und als niemand schaut, lüfte ich das Visier kurz, um zu sehen, ob wirklich niemand darin steckt, aber das kommt daher, weil ich gerade ein Buch von Italo Calvino über einen
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