Der Umweg nach Santiago
nicht existierenden Ritter ( Der Ritter, den es nicht gab ) gelesen habe, der ausschließlich aus dem Willen zu existieren besteht und damit seine leere Rüstung belebt. Die Rüstung kämpft mit auf dem Schlachtfeld, speist an der Tafel Karls des Großen, wird von Frauen begehrt, und erst als der Wille desjenigen, den es nicht gibt, erschlafft, wird die Rüstung, verlassen wie ein Gegenstand, in einem Wald gefunden. Geheimnisvoll, diese Geschichte, und genauso geheimnisvoll, jetzt in diese Metallpuppe hineinzuschauen. Sogar die Hände sind aus Stahl, ich kann die Finger vorsichtig bewegen, aber nein, da steckt keiner drin. An der rohen Steinwand hängen Schwerter, ich fahre mit dem Finger über die stumpf gewordene Schneide.
Draußen läuten die Glocken der Kathedrale. Es ist ein anderer Klang als der, den wir Läuten nennen, aber es ist auch kein Schlagen, eher eine Mischung aus beidem, als wollten diese Glocken noch etwas anderes kundtun als nur die Zeit. Der eine Ton ist hoch und drängend, er ruft, der andere gibt, dumpf und gemessen, zwischen diesem drängenden Rufen den Ort an, an dem die Zeit sich gerade befindet. Ich lausche und überquere den Vorplatz. Es ist jetzt früh dunkel. Die Klänge kommen aus einem freistehenden Turm, der Mond jagt durch die Flocken geschorener Wolle, die am nächtlichen Gewölbe hängen, die Kirche ist eine plumpe und düstere Masse. Ich gehe hinein und sehe einen anderen, komplizierteren Himmel in den Gewölben, hohe, in wunderlichen Mustern ausfächernde und wieder zu sich selbst zurückkehrende Steinfiguren, die mehr schmücken als stützen. In einer Ecke der Kirche ist ein Restaurator am Werk. Im hellsten Lichtschein, umgeben von Dutzenden kleiner Töpfe, sitzt er auf einem aufgebockten Tisch. Kleine Quadrate leuchten bereits in seinem Bild auf, der Rest ist ein dunkles Feld halb verschwundener Figuren, ich kann nicht erkennen, was es darstellt, aber es ist merkwürdig, aus diesem Sumpf verschwundener Bilder plötzlich ein Auge, eine Hand, eine grüne Mütze auftauchen zu sehen.
Santo Domingo de Silos
Detail eines Wandreliefs im Kreuzgang von Santo Domingo de Silos
Alte Frauen schieben sich an mir vorbei, am Läuten höre ich, daß eine Messe beginnt, Gebete einer Männerstimme, beantwortet von der einen alten Mädchenstimme all jener Frauen. Auch ohne hinzusehen, kann ich der Handlung folgen. Ich überlege, wie oft ich das alles gehört und gesehen habe in dem halben Jahrhundert, das es mich schon gibt, und da ertönt mit einemmal, wie eine Warnung, hoch und schrill das übermütige Krähen eines Hahns, einmal, zweimal, dreimal. Der Restaurator blickt nicht auf, der Priester leert seinen Kelch, die alten Frauen raunen die geheimnisvollen Worte. Bin ich denn der einzige, der dies hört? Wieder tönt dieser uralte Schrei männlichen Triumphs durch die hohen Gewölbe. Ich gehe zu der Stelle, von der das Geräusch kommt, und tatsächlich, über mir, an einer der Innenmauern der Kirche, steht auf einem Kaminsims, gekrönt von einem Halbbogen mit Rosetten und gotischen Pfeileraufsätzen, ein vergoldeter und verzierter Käfig, und in dem sanften gelblichen Licht hinter dem Gitter sehe ich sie, die heilige Henne und den heiligen Hahn,zwei Riesenexemplare im schönsten Hühnerstall der Welt. Die Geschichte dazu höre ich später. Vor Hunderten von Jahren kamen drei Pilger, Vater, Mutter und Sohn, aus Deutschland hierher. Sie aßen in einer Herberge, und eine der Mägde verliebte sich in den Sohn, der ihre Liebe jedoch nicht erwiderte. Sie zeigte ihn beim Profos an, nicht wegen unerwiderter Liebe, sondern wegen Diebstahls. Der junge Mann wurde festgenommen und zum Tode verurteilt. Als die Eltern dies hörten, gingen sie zum Haus des Profos, der gerade ein Huhn verspeiste. Sie flehten ihn an, das Leben ihres Sohnes zu schonen, da er unschuldig sei. Der Profos wischte sich den Mund und sprach: »Erstens hängt er schon, und zweitens ist er ebenso unschuldig, wie dieses Huhn hier auf meinem Teller lebendig ist.« Woraufhin sich das fette, nackte, gebratene Huhn durch ein Wunder im Nu in weißes Gefieder hüllte und gackernd vom Teller stieg. Die ganze Stadt eilte daraufhin zur Galgenstätte, und tatsächlich, der Gehenkte lebte noch, und seit dieser Zeit wohnen immer ein Hahn und eine Henne in der Kathedrale von Santo Domingo de la Calzada, und es gibt sogar Leute, die glauben, daß es noch immer dieselbe Henne ist, und das ist natürlich auch so.
In der Kathedrale Santo Domingo de la
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