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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Calzada
    Landschaften, Kirchen, Kirchen, Landschaften. Und überall dieses Wort: Camino. Camino de Santiago, Redecilla del Camino, die Verkehrsschilder zählen die Kilometer, die Zahl hinter Santiago wird immer kleiner, immer öfter sehe ich die Jakobsmuschel an Wasserpumpen und Sitzbänken, ich komme näher und bleibe weit weg.
    Von einem in meiner Erinnerung inzwischen verblaßten Besuch der Kathedrale von Burgos fällt mir nun, da ich sie wieder betrete, plötzlich jenes anfängliche Gefühl des Widerstrebens ein. Man steht in diesem aufgetürmten Raum und sieht nichts, eine dunkle, mit Gold ausgekleidete Höhle, Bewegungen von Menschen rundum, scharfes Geflüster, keine Höhe, auch wenn alles hoch genug ist. Zunächst gehe ich ziellos hin und her, weiß nicht, wo ich anfangen soll (als müßte ich anfangen), und wimmle die aufdringlichen Führer ab.
    Aus dem Dunkel treten jetzt mehr Gegenstände hervor, Figuren, ab und an knipst ein Führer für eine Gruppe das Licht über einem goldenen Altar an, ich gehe dorthin, es geht wieder aus, der ganze Raum bleibt eine unordentliche, dunkle Abschußrampe, für einen Auf bruch eingerichtet, der schon seit Jahrhunderten verschoben wird.
    Draußen stehen die beiden ziselierten Riesenraketen wartend da, Stein für Stein »wie ein Ring gesetzt«, schrieb Gautier, und das trifft zu. Erst als der letzte, oberste Stein gesetzt war, zeigten sie endgültig die Richtung der geplanten Raumfahrt an. Doch sie fliegen nie los, so betriebsam es drinnen auch ist. Es mag etwa fünf sein, hier und da läutet es, aus Nischen und geheimen Türen treten alte, alte Chorherren hervor, schlurfen durch ihr düsteres Reich wie lahme Fledermäuse, einer bleibt bei der kleinen Treppe stehen, bis ein anderer ihm hinaufhilft, und sie verschwinden im verzierten Chor und verstecken sich im Gestühl, ich kann es hinter dem Gitter gerade noch erkennen, Gemurmel, Geraschel großer Blätter.
    Ein neuer Führer faßt mich an. Dieser ist nun wirklich wachsbleich, seine Marmorhand deutet irgendwohin, ich gebe meinen Widerstand auf und folge ihm. Es ist Peter Sellers in seiner ersten Reinkarnation. Hundert Ticks und Affektiertheiten, er schlurft, hüstelt, wedelt mit der Hand auf dem Rücken, schlägt die Augen gen Himmel und raunt mich mit seinem dicken, in spanisches Öl getauchten Französisch voll. Durch Türen hindurch, Gänge entlang, Altäre, Schatzkammern, diese Kirche hat einfach kein Ende. Ich schaue begehrlich, aber er ist unerbittlich, schleppend dreht er sich um und geht weiter. Von feingemeißeltem Stein sagt er, er sei »wie Spitze«, und tatsächlich, er ist wie alte Spitze, wie ein Kind gehe ich hinter ihm her durch diese Orgie spanischer Dekoriersucht, der Fanatismus gestohlenen Golds. Die verschwenderische Fülle läßt einen erschauern, allein schon durch die schweigende, abgewandte Art und Weise, wie das verschnörkelte, geformte, gedrechselte, ziselierte Gold der Inkas im düsteren Dunkel zugegen ist: Er knipst ein Licht an, und es beginntzu glühen, er löscht es, und es bleibt da, unsichtbar und mächtig, es gehört zu den Stimmfetzen in der Ferne und, schlimmer noch, zu der Landschaft, die rings um die Stadt liegt, trocken und kahl, sand- und, Gott weiß ab welcher Höhe, auch goldfarben, Land, auf dem nichts gedeiht und das diese üppige, nicht eßbare Ernte hervorgebracht hat.
    Draußen kaufe ich aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus zwei lange Leporellos von Ansichtskarten, um endlich etwas sehen zu können, aber die Dimension fehlt, dann doch lieber die halbe Sichtbarkeit. Ich gehe zurück zu dem Grab der beiden condestables , Marmor wie weicher weißer Ton, glänzend, damit beschäftigt, diese beiden pausbäckigen Edelleute zu bewahren, den Firlefanz in ihren Kleidern zu bewahren, den treuen Hund zu ihren Füßen mit all seinen Locken zu bewahren, alle Perlen in ihren Kronen zu bewahren, nachts erheben sie sich und wagen ein Tänzchen und rennen die goldenen Königstreppen hinauf und hinunter oder besuchen all die anderen in Gold und Stein kostümierten Toten, stöbern in El Cids Koffer herum, essen ein Stückchen Goldbrokat, fliegen wie große, weiße Reiher durch das ewige Dämmerlicht und schlafen wieder ein, gefangen in ihren eigenen marmornen Falten beim Schlag der ersten Stunde.
    Als ich hinter wieder einem anderen Führer herlaufe, komme ich in einen Saal ohne Fenster, wo ein Gemälde von Memling hängt, Maria mit dem Kind. Es ist das röteste Bild, das ich kenne, sie trägt

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