Der Umweg nach Santiago
Tage späterstirbt er und wird tags darauf im Kloster der Schwestern der Heiligen Dreifaltigkeit begraben, in der Straße, die heute nach Lope de Vega benannt ist.
Es ist ein früher Montagmorgen, als ich durch diese beiden Straßen mit den Dichternamen schlendere. Es regnet in diesem Maimonat in Madrid. Ich suche die Gedenktafeln, von denen mein Buch von 1871 sprach, aber weil in diesem Buch keine Hausnummern angegeben waren, tue ich mich schwer. Schließlich finde ich das Haus von Cervantes. Es hat die Nummer 20. Während mein Freund, der Fotograf Eddy Posthuma de Boer, im Regen die Tafel zu fotografieren versucht, stelle ich mich in einem Torbogen unter, wo eine alte Frau in Schwarz Sägespäne ausstreut. Ihr Kramladen hat eine ganz schmale Tür und ein kleines Fenster, hinter dem ein paar Knöpfe, Stoffstücke und Borten liegen. Sie ist offensichtlich nicht davon angetan, daß ich dort stehe. Uralt ist sie, sie gehört eher zum Madrid von Cervantes als zum Madrid des Wirtschaftsbooms.
Gegenüber dem Haus des Dichters befindet sich jetzt ein lavomatique , aber das ist so ungefähr das einzig Moderne in der ganzen Straße. Ein Stück weiter sehe ich ein despacho de carbones , ein finsteres Loch, in dem Holzkohle verkauft wird, und eine churrería , eine kleine Bäckerei mit gefliesten Wänden, wo noch churros , eine Art gedrehter Krapfen, am Holzofen in Öl herausgebacken werden. Ich schaue zu dem alten Mann in dem Holzkohleladen, schwarz wie ein Bergarbeiter, und auf die eisenbeschlagenen Räder seines Handkarrens. Ohne es zu hören, weiß ich, wie diese Räder auf den groben Pflastersteinen klingen. In der Nachbarstraße finde ich das Kloster, in dem Cervantes bestattet ist. Der Gedenktafel an der Fassade zufolge war es ein Trinitarier-Kloster, und der Dichter ist dort auf eigenen Wunsch beerdigt, weil es ein Trinitarier war, der ihn von der Sklaverei errettet hatte.
Ich rüttle an der Tür und gerate in einen düsteren Raum mit einer zweiten, halb offenen Tür. Jetzt stehe ich vor etwas, was eindeutig eine Kirchentür ist, aber die ist verschlossen. Dann höre ich eine andere Tür sich leise öffnen und sehe zwei Nonnenköpfe,die mich anschauen. »Liegt Cervantes hier begraben?« frage ich, und die Antwort ist sehr spanisch: »Ja, aber er liegt hier nicht.« Ich sage, daß ich trotzdem gern einen Blick in die Kirche werfen würde, aber das geht nicht. Die Messe ist vorbei, und dann wird die Kirche verschlossen.
»Gibt es denn überhaupt ein Grab?«
»Nein, eigentlich gibt es auch kein Grab.«
Dieser Autor hat seine Spuren gründlich verwischt, aber so leicht entzieht man sich der Nachwelt nicht. In der Nähe des Parlaments, der Cortes , gibt es in einem dreieckigen kleinen Park ein Standbild. Der Boden ist vom andauernden Regen aufgeweicht, und das mag der Grund dafür sein, weshalb die Figur dort etwas albern herumsteht, ein Dichter-Soldat, der sich in die falsche Zeit verirrt hat, das scharfe Profil wie das einer besonderen Vogelart über dem steinernen Mühlsteinkragen. Auf den Reliefs zu seinen Füßen Szenen aus seinem Roman, der Ritter und der Knappe, die ich in den darauffolgenden Tagen noch in so vielen Gestalten sehen werde, und eine Empire-Frauengestalt, die mit einer Lilie durch die Luft fliegt und wahrscheinlich seine Muse darstellen soll. Ein bißchen dumm stehen wir da im Regen herum, er aus Stein und ich etwas verletzlicher, mir kommt es sogar vor, als lache er mich aus, und recht hat er. Schriftsteller befinden sich nicht in ihren Standbildern, sondern in ihren Büchern, und wenn ich etwas von ihm will, sollte ich lieber die Landschaften aufsuchen, in denen sein Buch spielt.
Ein paar Stunden später haben wir Madrid hinter uns gelassen, das Land ist offen und weit, große Wolkenschiffe segeln über den mächtigen Himmel, aber es regnet nicht mehr. Dies ist noch Kastilien, das Land, das von oben, aus dem Flugzeug, aussieht wie eine Ebene aus Rot und Braun, sandfarben, trocken, die Meseta. Da es stark geregnet hat, ist es jetzt nicht so streng wie im Sommer, die Wegränder sind voll mit den bunten Blumen des Spätfrühlings, Klatschmohn, Taubnesseln, Margeriten, Löwenzahn, Orgien von Gold und Rot und Blau und Violett, der Horizont wogt vor unseren Augen, und als wir von der Hauptstraße abgebogensind, ist alles auf einmal leer, und das Gefühl großer Freiheit, das dazu gehört, stellt sich ein. Wir haben beschlossen, in Chinchón anzuhalten, wo der beste anís ganz Spaniens hergestellt
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