Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
die den Reisenden in La Mancha auf Schritt und Tritt beschäftigen werden. Die Gegend ist echt, der Held nicht. Der Autor, der Cervantes hieß, war auch echt, doch in dem glücklichen Augenblick,als er seinen nicht existierenden Helden in La Mancha beheimatet sein ließ, gab er dieser eigenartigen Region Spaniens einen Mehrwert, der den Städten, Dörfern und Landschaften von La Mancha wohl auf immer bleiben wird.
    Und so kommt es, daß der Reisende vierhundert Jahre später in ebender Gegend, in der Miguel de Cervantes seinen Don Quijote umherstreifen ließ, die größte Mühe hat, Schein und Sein auseinanderzuhalten.
    Der Autor ist schemenhafter geworden als sein Held. Jedermann weiß, wie Don Quijote aussah, auch wenn es ihn nie gegeben hat, aber von seinem geistigen Vater existiert bis heute kein verläßliches Bild. Cervantes hat sich einmal beschrieben, gezeichnet wurde er aber zeit seines Lebens nicht. Deshalb ähnelt sich bei seinen Standbildern nur die Kleidung. Er hatte es seinen künftigen Porträtisten auch nicht gerade leicht gemacht: »Den Ihr hier seht, mit Adlergesicht, kastanienbraunem Haar, glatter und freier Stirn, lustigen Augen und gebogener, doch gut proportionierter Nase, Silbervollbart, der vor keinen zwanzig Jahren noch golden war; der Schnurrbart groß, der Mund klein, die Zähne nicht klein, nicht groß – er besitzt davon nur sechs, diese in schlechtem Zustand und noch schlechter plaziert, so daß die einen mit den andern nichts zu tun haben –, die Statur zwischen zwei Extremen, weder groß noch klein, die Hautfarbe lebhaft, eher hell als dunkel, ein wenig gebeugt die Schultern und nicht sehr leicht zu Fuß. Das ist, sage ich, das Aussehen des Autors von La Galatea und des Don Quijote .«
    Die Schwierigkeit bei Cervantes lag darin, daß er im Gegensatz zu seinem Don tatsächlich gelebt hat und daß offensichtlich keiner es wagte, seine Phantasie an ihm auszulassen. Don Quijote und Sancho Pansa haben seit Daumier und Gustave Doré ein Äußeres, das für alle Zeiten geprägt ist: Wer die Augen schließt, sieht sie vor sich. Diesen Wettstreit zwischen Phantasie und Wirklichkeit hat die Phantasie eins zu null für sich entschieden. Der Dichter ist das Phantasieprodukt, seine Figuren sind echt; wenn man die zahllosen Standbilder sieht, die man dem Ritterund seinem Knappen in all den noch immer existierenden Orten errichtet hat, an denen sie ihre fiktiven Abenteuer bestanden haben, zweifelt man keine Sekunde daran.
    Ich begann meine Reise nach La Mancha in Madrid. In einem Buch von 1871, Castilian Days von John Hay, hatte ich gelesen, daß ich dort das Haus finden könne, in dem Cervantes gelebt hat, und dieses Haus wollte ich sehen. Es steht, natürlich, in der Calle de Cervantes, derselben Straße, in der auch Lope de Vega wohnte, wenngleich die Straße damals anders hieß. Jetzt liegen dort zwei alte schmale Straßen dicht nebeneinander, benannt nach diesen beiden Großen der spanischen Literatur, die, wie das in literarischen Kreisen vorkommt, viel aneinander auszusetzen hatten. Lope de Vega war der Erfolgsautor seiner Zeit, der Mann der zweitausend Theaterstücke und »einundzwanzig Millionen Verse«, während Cervantes ein abenteuerliches Leben führte, in Seeschlachten mitkämpfte, verwundet wurde, von berberischen Seeräubern gefangengenommen wurde und mit seinem Bruder fünf Jahre lang als Sklave in Nordafrika lebte, bis er von einem Mönch freigekauft wurde. Auch danach ging es ihm nicht gut. Er hatte einen untergeordneten Posten in Sevilla, wurde wegen Schulden ins Gefängnis geworfen, versuchte vergeblich, eine Anstellung in den Kolonien zu bekommen, hoffte, von seinem Gönner, dem Grafen von Lemos, dem der Don Quijote gewidmet ist, auf seine alten Tage noch an den Hof von Neapel mitgenommen zu werden, aber nichts von alledem klappte. Sogar der große Erfolg seines Don Quijote machte ihn nicht reich, und es dauerte neun Jahre, bevor er endlich den zweiten Teil schrieb, der ein Jahr vor seinem Tod erschien. Sein letzter Brief an seinen Gönner zeigt, daß er sich bis zum Schluß treu blieb: »Gesetzt schon den Fuß im Bügel, mit der Angst des Todes, großer Herr, schreib ich Dir diesen Brief. Gestern gaben sie mir die Letzte Ölung und heute schreibe ich dieses. Die Zeit ist knapp, die Angst steigt, die Hoffnung schrumpft. Trotz allem lebe ich mit dem Wunsch zu leben mein Leben weiter und möchte ihm einen Wall setzen, bis ich Eurer Exzellenz die Füße küssen könnte.« Vier

Weitere Kostenlose Bücher