Der Umweg nach Santiago
Toboso. Manchmal stehen auch Zeilen aus dem BUCH an den Straßenecken, bis man sich zuletzt nicht mehr sicher ist, ob man in einem Buch reist oder in der wirklichen Welt. Denn was soll man sagen, wenn man das Haus Dulcineas besucht? Es steht in El Toboso, und es ist still in El Toboso, so eine Stille, in der die Phantasie zu schwirren beginnt. In der Ortsmitte die Kirche von Santiago, die in Don Quijotes Einbildung das Schloß seiner Angebeteten war. Ich folge den geschriebenen Worten auf den Hauswänden und nach der letzten Aufschrift, »en una callejuela sin salida ...« , in einer Sackgasse ..., stoße ich dann auch auf Dulcineas Haus. Man kann es anfassen, man darf sogar hinein. Für einen, dessen Leben das Schreiben ist, ein denkwürdiger Augenblick. Das echte Haus von jemandem zu betreten, den es nie gegeben hat, ist keine Kleinigkeit. Milan Kundera hat Don Quijote den ersten richtigen Roman genannt, und wenn eines der Hauptmerkmale des Romans der Sieg der Phantasie über die Wirklichkeit ist, mit allen dazugehörigen subversiven Möglichkeiten, der Beklemmung dieser sogenannten Wirklichkeit zu entrinnen, dann hat das Genie Cervantes für alle Zeiten die Macht dieser Phantasie aufgezeigt, und sei es auch nur, weil er mich jetzt, fast vierhundert Jahre später, auf das Haus, den Kamin, das Bett, die Küchengeräte einer Person starren läßt, die nur ausgedacht war. Die Erregung, die für mich dazugehört, habe ich erst einmal zuvorverspürt, und zwar beim Balkon Romeos und Julias in Verona, zwischen hundert filmenden Japanern.
Ich blicke auf den Garten, den Hof, den Olivenbaum, die Weinpresse und lausche dem Geplapper der nonnenähnlichen Führerin, die das Rätsel aufdecken will und erklärt, wer eigentlich das Modell für Dulcinea gewesen ist. Aber ich will das gar nicht hören, ich will nicht, daß die Phantasiefigur mit irgendeiner mutmaßlichen historischen Wirklichkeit befleckt wird, ich will jetzt, und zwar sofort, zu diesem anderen Ort, keine fünfzig Kilometer von hier, an dem Dulcinea ersonnen wurde, Argamasilla de Alba, und auch hier ist mir egal, ob es wahr ist oder nicht. Aber zuerst muß ich noch ins Rathaus, wo ein eifriger Bürgermeister eine Sammlung von Quijotes (und damit meine ich jetzt die aus Papier, die Bücher) zusammengetragen hat. Das Gräßliche an Meisterwerken ist, daß sie jedermann gehören, auch den Menschen, die man haßt oder verachtet. Das gilt für Hamlet und das gilt auch für den Don. Ein alter Mann führt uns durch eine Klasse staunender Schulkinder in einen kleinen Saal, in dem die Bücher aufgeschlagen liegen. Wer hat Don Quijote nicht gelesen? Alle haben sie ihr Exemplar geschickt, mit Widmung, als seien sie selbst der Autor gewesen, Mitterrand, Prinz Bernhard der Niederlande, Margaret Thatcher, Adolf Hitler, Hindenburg, Mussolini, König Juan Carlos von Spanien, Alec Guinness, Juan Perón, Ronald Reagan, eine Ansammlung von Heiligen und Schurken, unter denen nur Stalin fehlt, weil das Buch mit seiner Widmung verschwunden ist.
Es gibt zwei Arten von Licht auf der Welt, Menschenlicht und Fotografenlicht, und letzteres entscheidet, daß wir an diesem Tag nicht weiter dür fen. Wir schlafen in einem Hotel an der großen Straße von Madrid nach Valencia, in Mota del Cuervo. Natürlich heißt es Hostal Don Quijote. Ich bekomme ein kleines, dunkles Zimmer und als Schlafmittel das Trommeln des Regens und das Dröhnen der großen Lastwagen. Doch bevor sie sich zurückziehen, haben Schriftsteller und Fotograf ein Gespräch über die äußere Gestalt des Ritters und seines Knappen. »Ich sehe vieleSanchos auf der Straße«, sagt der Fotograf, »und wenig Don Quijotes. Aber es muß doch welche geben.« Er hat recht, aber ich denke, daß die Knappen selten werden, weil ihre Meister fehlen. Sancho fällt einem erst durch den Vergleich mit seinem Herrn auf. Trotzdem – wer hat eigentlich Don Quijote sein Äußeres gegeben? Wer hat ihn geprägt ? Cervantes natürlich, aber wir fragen uns, ob er sein Geschöpf in dem Bild von Doré erkannt hätte, auch wenn feststeht, daß Doré Cervantes’ Beschreibung als Ausgangspunkt nahm. Aber sogar in Picassos Don Quijote schimmert der von Doré durch, wer ist nun also der geistige Vater des physischen Don, den wir vor uns sehen, wenn wir das Buch lesen? Wieviel stärker ist ein Bild, das nach Worten geschaffen wurde, als die Worte selbst, wenn das Bild seinen eigenen verbalen Ursprung zu über flügeln vermag? Wir kommen zu keinem Ergebnis.
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