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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Santiago de Compostela.
    Was ich selbst noch glaube oder nicht glaube, spielt hier keine Rolle: Für den Mann, der dies schuf, der diesen toten Stein zum Fließen, Strömen, Bewegen brachte, war, was er darstellte, ebenso deutlich, wie es das über alle Kriege, Pestepidemien und Veränderungen hinweg für mich heute noch ist. Es ist noch immer eine Welt, zu der ich gehöre, weil ich sie begreife. Die Figuren, die Proportionen sind fast idiotisch naiv, die ganze Darstellung stützt sich auf mehrere bereits gotische, im Vergleich zum Rest langgestreckte hieratische Figuren: Maria Magdalena, Petrus, die Mutter des Jakobus, ein grauenvoll erhängter Judas. Die Verdammten zur Linken Gottes werden rücklings ins Verderben gestürzt, Ensorartige Masken und ein viel zu großes Schaf füllen den Raum, irgendwo im Stein liegt ein ganz kleiner Mann und schläft, Ritter mit Schilden wie umgekehrte Käfer, maurische geometrische Figuren – zwanzig Jahre sind verflogen wie ein Augenblick, und wieder stehe ich da wie damals und starre eine Stunde lang wie der Dorfnarr empor, wie einer, der am liebsten verwandelt werden will, versteinert, verzwergt, hochgehoben und dazwischengesetzt, einer, der dann auch achthundert Jahre da gestanden hätte, eine Figur in einer Fassade eines vergessenen spanischen Dorfs, in das nie einer kommt.
    Es sind langsame Tage. Ich fahre am Yesa-See entlang, einem totenstillen Stausee, der von den kalkigen Bergen der Sierra de Leyre als Wächtern umstanden wird. Zum erstenmal Sonne, die auf die glänzende Wasserfläche prallt und mich blendet, dochdann, in der vorweltlichen Krypta des Klosters von Leyre – archaische, seltsam ungleiche Säulen, grob gemeißelte, niedrige Kapitelle mit den Widderhörnern des gespaltenen Y, dem Zeichen der zweifachen Erwählung –, ist es kälter als die Nacht. Dies ist die Jahreszeit, in der solche Reisen gemacht werden müssen, Pamplona ist zur Provinzhauptstadt erstarrt, im phantastischen Museum von Navarra erwachen die Aufseher aus ihrem Winterschlaf, Jaca liegt erschlagen unter den hohen weißen Gipfeln der Pyrenäen, und jeden Abend kehre ich in meine Bleibe in Sos zurück – und es ist, als wäre es immer so gewesen, vom einzigen Gast werde ich langsam zum einzigen Bewohner, bis ich selbst die Verzauberung sprenge und nach Süden weiterfahre. Erst ein Stück über den Mond, dann weiter nach Osten, dem wilden Tal des Ebro folgend bis dorthin, wo die Erde röter wird. Olivenhaine bedecken die Hänge, am Straßenrand sehe ich die kleinen blauen Blüten des wilden Rosmarin, und am Ende des Tages, hoch oben vor den flüchtigen, dahinsegelnden Wolken, das von Mauern umschlossene Kastell von Alcañiz.
    An diesem Abend bin ich nicht der einzige Gast im Speisesaal. In einer entfernten Ecke sitzen vier Spanier und ein paar Tische neben mir ein Engländer. Das weiß ich, denn das einzige andere Auto am Tor hatte ein englisches Nummernschild. Er sitzt unter der Fahne mit dem Wappen von Don Martín Gonzales de Quintana, ich unter dem von Don Alonso de Aragón y de Foix. Unsere Weinkrüge sind gleichzeitig leer. Er liest und schreibt, ich schreibe und lese, und unsere Blicke weichen sich aus, wie bei Hunden, die wissen, daß sie die gleiche Krankheit haben.
    1979

W ALTER M UIR W HITEHILL
    Sternstunden , ein fabelhafter, (natürlich) deutscher Begriff, um auszudrücken, daß irgendein Augenblick oder irgendeine »Stunde« im eigenen Leben so bedeutsam war oder werden sollte, daß sie dem Leben eine mehr oder weniger neue Wendung geben sollte. Diese Idee setzt eine große Erleuchtung von außen voraus, einen heiligen Moment, einen Schock des Erkennens, und ich bin viel zu trocken veranlagt, um daran zu glauben. Müßte nicht, was da so plötzlich erleuchtet wird, schon im Ansatz vorhanden sein? Wie sollte man sonst den Moment erkennen können? Es war also reiner Zufall, daß ich dieses eine, ziemlich langweilig aussehende Buch zwischen den anderen herauszog. Es war von fahl orangeähnlichem Braun, die Faksimileausgabe eines Buches, das 1941 bei der Oxford University Press erschienen war. Hatten sie damals nichts Besseres zu tun, denkt man unwillkürlich, und gleichzeitig gibt es einem ein optimistisches, fröhliches Gefühl: Mitten während der Battle of Britain erscheint ein Buch, so groß wie zwei Ziegelsteine, über die romanische Architektur Spaniens im elften Jahrhundert, irgend etwas war also offensichtlich nicht kleinzukriegen, eine Art von Gerechtigkeit für ein paar weit

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