Der Umweg
über das steile Bachufer hängen und starrte ins schnell fließende Wasser, das an dieser Stelle eine kleine Stufe hinabstürzte. Am gegenüberliegenden Ufer, ebenso steil und kaum mehr als einen Meter entfernt, wuchsen verschiedene Farne und allerlei andere Pflanzen, deren Namen sie nicht kannte. Ein vor langer Zeit umgestürzter Baum lag wie eine Brücke aus Moos quer über dem Bach. Es fiel ihr schwer, sich vom Wasser wieder loszureißen, das endlose Strömen und Rauschen hypnotisierte. Ob der Bach auf dem Berg entsprang?
Am Abend starrte sie ins Kaminfeuer wie am Nachmittag ins Wasser. Sie hatte Kerzen angezündet und auf die Fensterbänke gestellt. Ein bohrender Schmerz im Rücken. Vor dem Bad in der Löwenfußwanne hatte sie Brot gegessen, mit Käse und einer süßen Zwiebel. Kochen war ihr zu umständlich, natürlich waren Gemüse und Obst gesund, aber das betraf doch nur gesunde Menschen, und Fleisch hatte sie noch nie besonders gemocht. Was sollte sie bloß mit dem Lamm, das Rhys Jones ihr angedroht hatte? Darüber hatte sie im warmen Wasser nachgedacht, und über den Garten. Wenn sie auch keine richtige Zeichnung machen konnte, in ihrer Phantasie waren schon Wege angelegt und blühende Beete, sogar der Rosenbogen war aufgebaut. Jetzt starrte sie ins Feuer, ohne es wirklich zu sehen. Es war warm im Zimmer, sie hatte Licht, und mit ein paar Kissen war die Chaiselongue wunderbar bequem. Nach dem Bad hatte sie sich nicht wieder angezogen, sie lag unter einer weichen Decke. Ein Glas Wein stand auf dem Couchtisch, neben The Wind in the Willows und den ungelesenen Büchern.
Im Geruch des brennenden Holzes war etwas Scharf-Süßes, sie dachte an die Zuckerplätzchen und Mandelspekulatius ihrer Großmutter. Die Großeltern, die mit dem Gebäck in die Rustenburgerstraat kamen; das laute Klopfen an der Tür; der Blick durch die beschlagene Fensterscheibe auf die Straße, am liebsten, wenn es draußen so richtig ungemütlich war; ihr Erstaunen, wenn dort noch Leute zu sehen waren, vielleicht sogar ein Zwarte Piet auf dem Fahrrad, eine Rute in der Hand; die Genugtuung, daß es drinnen warm war und nicht kalt und naß wie draußen; heiße Schokolade und Geschenke, der eigentümliche Geruch und das Geraschel des Geschenkpapiers; das Lachen der Erwachsenen im spärlich beleuchteten Wohnzimmer; ihr eigener Wunschzettel, den sie noch einmal durchsah und auf dem sie dann manchmal mit Bleistift die erhaltenen Geschenke ausstrich; die Gewißheit, daß alles vorbei war, wenn in der Küche die Leuchtstoffröhren flackernd angingen; das Rumoren auf der Treppe, wenn sie schon im Bett lag; das leere Gefühl am 6. Dezember. Immer wieder dieses Heimweh. Vielleicht gab es auch ein anderes Wort dafür, vielleicht war »Wehmut« besser, dabei ging es eher um eine Zeit als um einen Ort.
Die Gänse begannen laut zu schnattern. Ich brauche eine Musikanlage, dachte sie, während sie sich mühsam hochwuchtete. Sie lief die Treppe hinunter, schaltete die Außenlampe an und rannte über den Weg zur Schmalseite des Hauses. »He!« rief sie. »Verschwindet!« Sie warf eine Handvoll Schiefersplitt in Richtung Gänseweide, die nur eine dunkle Fläche war. »Weg! Weg!« Noch eine Handvoll Steinchen. »He!« Ein einzelner Stein kullerte weiter, aber das Geräusch wurde schnell vom Bach übertönt. Die Gänse waren still. Sie ließ sich auf die Knie fallen und schaute zum Himmel hinauf. Noch nie hatte sie so viele Sterne gesehen. Und noch nie hatte sie die Sterne nackt und auf den Knien betrachtet, Ende November.
DEZEMBER
27
Beim Aufräumen der Garage fiel dem Mann ein Karton auf den Fuß. Der Karton enthielt Bücher und Papiere seiner Frau. Studienjahr 2003-2004 stand darauf. Er hatte ihn gerade auf ein Regalbrett wuchten wollen – eigentlich konnte er ihn kaum so hochheben –, als sich an einer Stelle das Klebeband löste und er den Karton nicht mehr halten konnte. Das Ding schrammte an seiner Brust entlang und traf mit einer Spitze den linken Fuß. Der Mann trug Slipper. Diesen Tag – es war ein Sonntag, der 6. Dezember – überstand er noch; er schonte den Fuß, verschob das Aufräumen, setzte sich mit einem Glas Rotwein vor den Fernseher, sah den lieben langen Nachmittag Sport. Am nächsten Morgen war der Fuß blaugelb und dick geschwollen, so dick, daß die kleineren Zehen fast nicht mehr als Gliedmaßen zu erkennen waren. In seinem Taschenkalender fand er die Nummer des Hausarztes und rief an. Er konnte sofort kommen. Nach dem Anruf
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