Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker

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tiefer. Vom Schweinestall her war ein Jaulen zu hören. Bradwen blieb hinter ihr, auch dort, wo es eigentlich nicht nötig war. Irgendwo fuhr ein Auto, sie hätte nicht sagen können, aus welcher Richtung das Geräusch kam, sie mußte an den Dampfzug denken und stellte sich den Jungen auf einer Holzbank im Zug vor, neben ihr. Als sie über einen stile kletterte, erwartete sie jeden Moment eine Hand auf ihrer Hand, ein Knie an ihrer Wade. Am Steinkreis roch es wieder nach Kokos. Vielleicht war das der Geruch der Stechginsterblüten. Sie setzte sich auf den großen Stein und gab dem Jungen mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er sich neben sie setzen sollte. Das tat er. »Hier hab ich gelegen«, sagte sie, »als mich der Dachs gebissen hat.«
    Er schnaubte kurz durch die Nase. Rutschte hin und her.
    »Du glaubst mir nicht, stimmt’s?«
    »Nein.«
    »Sitz mal still.« Sie holte die Zigaretten aus der Jackentasche und zündete sich eine an.
    »Was machen wir jetzt?« fragte er.
    »Nicht reden.«
    Nach der zweiten Zigarette gab sie auf. »Wir gehen wieder«, sagte sie.
    »Worauf hast du gewartet?« fragte er.
    »Jedesmal wenn ich hier sitze, kommt ein Dachs halb unter diesen Sträuchern heraus.«
    »Am Tag?«
    »Ja, sicher. Glaubst du vielleicht, daß ich mitten in der Nacht hier sitze?«
    »Ich hab noch nie einen Dachs gesehen. Einen lebendigen, meine ich.«
    »Ich ja. Dreimal schon.«
    »Hm«, machte der Junge.
    »Komm.«
    An dem Zauntritt, bei dem sie auf dem Hinweg eine Hand und ein Knie erwartet hatte, verschwamm plötzlich alles vor ihren Augen. Gleich darauf wurde es dunkelviolett, und als sie wieder zu sich kam, stand sie über einen Querbalken gebeugt, der Junge hatte die Arme von hinten um ihren Bauch gelegt und hielt sie fest. Sie sah dichtes Gras, einen rostigen Stacheldrahtzaun, Baumstämme und halb vermorschte Pfähle, Matsch. Sie hörte Sam leise jaulen, ahnte, daß er wahrscheinlich laut jaulte, sie aber noch weit vom Stall entfernt war; dann hörte sie einen Vogel aufgeregt pfeifen. Was ist das für ein Vogel, dachte sie. Ich will es wissen. Keine Zeit, keine Zeit. Sie roch etwas Säuerliches, es war ein Geruch, den sie bis vor kurzem mit abgefallenem Laub in Verbindung gebracht hätte oder mit Holz, mit dem Balken, auf dem ihre Hände lagen. Der Junge schien von der Hüfte bis zu den Schultern an ihrem Oberkörper zu kleben, er atmete in ihren Nacken, seine Unterarme umklammerten ihren Bauch, als befürchte er, daß dort etwas herausfallen könnte. » There, there «, sagte er, eine beruhigende Floskel, zu der es ihrer Ansicht nach keine niederländische Entsprechung gab – so wie das Englische ihr »ach« nicht kannte. »Da, da.« Sie wußte nicht, ob er gemerkt hatte, daß sie wieder bei sich war. Ich muß essen, dachte sie. Mehr essen. In einem Baum bewegte sich etwas, huschte am Stamm entlang abwärts. Ein Grauhörnchen überquerte den Weg. Es blieb kurz sitzen, aufrecht, die kleinen Vorderpfötchen dezent vor der Brust ineinandergelegt. Einen Moment schien es sie anzuschauen, dann hoppelte es weiter. Ob es mich für ein etwas groß ausgefallenes Eichhörnchen hält, mit einem zweiten Eichhörnchen auf dem Rücken? Sehen Eichhörnchen Menschen, wie Hunde es tun? Sie richtete sich nicht auf, der Junge sollte sie noch eine Weile so festhalten. Sie beobachtete das Hörnchen, bis es in einiger Entfernung wieder auf einen Baum kletterte, auch das völlig lautlos. Der Vogel war verstummt. Ich muß ihn wegschicken, wußte sie plötzlich. Er muß hier weg, so geht es nicht. »Ich falle nicht um«, sagte sie.
    Der Junge zog die Arme fort. »Eben bist du umgefallen.«
    »Jetzt nicht mehr.«
    »Kommst du rüber?«
    »Ich glaube schon.« Sie hob einen Fuß und stellte ihn auf den untersten Balken. Mein Dachsfuß, dachte sie. Den anderen stellte sie daneben. So ging es, sie löste eine Hand vom Balken und griff nach dem Pfahl. Als sie auf der anderen Seite stand, etwas außer Atem, das Gesicht dem Jungen zugewandt, bemerkte sie die schwarzen Rinder, die sie schon einmal gesehen hatte. An dem Tag, als sie zum Reservoir gegangen war. Ihr Fell war so schwarz wie sein Haar, und von seinem Haar glitt ihr Blick zu seinen Augen hinunter. Dunkelgrau. Sie konnte ihm nicht direkt in die Augen sehen, nie konnte sie ihm direkt in beide Augen sehen, immer mußte sie sich zwischen dem einen und dem anderen entscheiden.
37
    Bradwen kochte wieder. Er tat es von sich aus, es schien ihm Spaß zu machen. An diesem Abend gab