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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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heftigste gewesen, folgte wenig später ein noch schlimmeres Toben. Sie kroch tiefer unter die Bettdecke, die Tür ihres Schlafzimmers sprang einen Spaltbreit auf, im Flur rumorte es. Sie hielt sich an ihrem eigenen Körper fest, umklammerte durch den dünnen Stoff des Nachthemds ihre Brüste, schob die Hände dann zwischen die Beine, zog die Knie an, wie um sich einzuigeln. Geruch von einheimischen Kräutern. Der Sturm kam von der Irischen See, sie schüttelte den Kopf, um das Bild eines großen Schiffes loszuwerden, Biergläser und Teller mit Kroketten rutschten über eine Theke, Bilder standen von der Wand ab, Roulettekügelchen sprangen über einen roten Teppichboden, ein Clown auf einem kleinen Podium übergab sich in die Kulissen. Sie schluckte, stellte sich Bradwen auf einer quadratischen Fläche mit blauem Rand vor, auf der er sich ausschließlich diagonal fortbewegte, in kurzer Hose, aber mit seinen L-und-R-Socken, die ein Stück heruntergerutscht waren, er drehte Kreise auf den Händen, Ellbogen in die Taille gedrückt, Halsadern geschwollen. Sam saß auf einem Stuhl am Rand des Quadrats und bellte jedesmal, wenn sein Herr durch die Luft wirbelte, zu fliegen schien und mit gestreckten Beinen genau in einer Ecke landete, dann einen Arm in die Höhe reckte, so daß die Achsel nicht mehr verborgen war. Das Toben des Sturms wurde von einem Knacken übertönt, es war eher ein Reißen, altes, lebendiges Holz, das sich aus der Erde löste. Sie merkte, daß sie nicht an früher dachte, an ihren Mann, den Studenten, ihren Onkel, an Weihnachten mit den kleinen Kerzen in Form von Nikoläusen, die süß dufteten. »Ah«, machte sie, weil eine dieser Kerzen jetzt doch in ihrem Kopf war, abgebrannt bis zur Nikolaustaille, ein Pfützchen rotes Kerzenwachs auf der Weihnachtsdecke aus Papier, neben einem Teller mit dünn geschnittenem Roastbeef, Blumenkohl und Käsesoße. Ihre Mutter, die das Essen nicht genießen konnte, niemals, weil sie Angst hatte, irgend etwas von der Weihnachtssendung im Fernsehen zu versäumen. Sie überlegte, ob sie aufstehen sollte. Sich unten vor den Herd setzen, rauchen. Tee kochen.
    Sie fuhr hoch, warf die Bettdecke zurück und stand auf. Legte kurz die Hand auf die Fensterscheibe, spürte den Druck des Windes. Einen Moment war ihr schwarz vor Augen, sie hatte sich zu schnell erhoben. Die Lichter in der Ferne flackerten, nein, überall peitschten Zweige hin und her, ließen die Lichter im Rhythmus des an- und abschwellenden Sturms aufleuchten und verlöschen. Sie öffnete die Tür etwas weiter, tastete sich zur Treppe, die Hand schwer auf dem Geländer. Unten im Wohnzimmer glühte der Ofen noch nach, ein schwacher, unruhiger roter Schein beleuchtete die Matte mit dem Wort WELCOME an der Haustür und die Bergschuhe des Jungen daneben.
    Sie zündete die beiden Kerzen auf der Fensterbank an und stellte den Wasserkessel auf die wärmere Platte. Der gekappte Bambus schabte über die Außenwand, irgendwo klapperte eine Tür, die Tür des Schweinestalls, sie hörte das metallische Geräusch der altertümlichen Klinke. Es regnete nicht, die Scheibe war trocken. Das Wasser begann zu kochen, sie hängte einen Teebeutel in einen Becher und goß das Wasser darüber. Während der Tee zog, rieb sie mit der Hand über Stirn und Schläfen, über den Bauch. Nichts. Außen war nichts. Sie griff nach den Zigaretten auf dem Tisch und zündete sich eine an. Der Tee war heiß, sie verbrannte sich die Zunge, fluchte leise. Kaum hatte sie die Zigarette ausgedrückt, zündete sie die nächste an. Sie saß auf einem Stuhl zwischen Tisch und Herd und drehte den Kopf zur Wanduhr. Bei diesem Sturm war das scharfe Ticken nicht zu hören. Zehn nach zwei. Dafür hörte sie ein anderes Ticken, vom Wohnzimmer her, und als der Hund im Durchgang zur Küche stand, wußte sie, daß es seine Krallen auf der Holztreppe gewesen waren. »Hallo«, sagte sie. Der Hund senkte den Kopf und tappte langsam näher heran, schuldbewußt, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, warum. »Konntest du auch nicht schlafen?« fragte sie. Sam schaute sie aufmerksam an, blickte kurz dem Rauch nach, der aus ihrem Mund kam, legte den Kopf auf ihre Knie. Sein Seufzen ließ den Saum ihres Nachthemds zittern. Sie drückte die Zigarette aus und legte ihm die Hand auf den Kopf. »Wo ist Herrchen?« flüsterte sie. Der Hund begann leise zu fiepen.
39
    Der nächste Morgen war vollkommen windstill. Bradwen stand neben einer umgewehten Eiche, deren Krone quer

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