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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ihre Hände im Schoß. Sie stellte sich vor, wie der Filmregisseur zu ihr sagte: »Nein, nein. Sie dürfen nicht zulassen, dass er Ihre Hand nimmt, Audrun. Vergessen Sie nicht, Sie sind unschuldig. Unschuldig. Die Unschuldigen zeigen keinerlei Schwäche. Im Gegenteil, sie demonstrieren, dass sie keinen Bedarf an besonderer Freundlichkeit haben.«
    Traviers Stimme war trotzdem freundlich, als er sagte: »Darf ich Sie etwas fragen, Mademoiselle Lunel? Glauben Sie, dass Ihr Bruder irgendwelche feindseligen Gefühle gegenüber Verey hegte?«
    Audrun sah Travier an, sie hielt seinem Blick stand. »Heißtdas, Sie wollen wissen, ob ich glaube, dass er ihm etwas zuleide getan hat?«, entgegnete sie.
    »Ja. Ich frage Sie, ob Sie glauben, dass Ihr Bruder etwas mit dem Tod von Anthony Verey zu tun hat.«
    Jetzt begann sie zu weinen. Es war gar nicht schwer.
    Es war nie schwer gewesen. Um Tränen heraufzubeschwören, musste sie nur an Bernadette denken. Es handelte sich nicht einmal um einen aktiven Akt. Bernadette brauchte nur auf ihrem Stuhl in der Sonne zu sitzen und, ein Sieb im Schoß, Bohnen abzuziehen und nach ihr zu rufen.
    Audrun legte den Kopf in die Hände und ließ ihn hin und her schaukeln, und sie fühlte, wie Inspecteur Travier sie zart berührte und seine Hand leicht auf ihrer Schulter liegen ließ.
    »Es tut mir leid«, sagte er, »dass ich Ihnen solche schrecklichen Fragen stelle. Sie müssen nicht antworten. Sie müssen nicht –«
    »Ich habe Angst um ihn!«, rief sie aus. »Er hat diese Aussetzer. Er tut Dinge, und hinterher weiß er nichts davon. Armer Aramon! Er hat sein Gedächtnis verloren. Ich mache mir so große Sorgen um ihn!«
    Sie schluchzte eine ganze Weile, und in ihren Ohren klang ihr eigenes Weinen schön und sehr harmonisch.
     
    Danach blieben die Polizisten nicht mehr lange, und das hatte sie auch schon vorher gewusst.
    Sie gingen zurück zu einem der Wagen auf der Straße, und ihre stotternden Funkgeräte hallten durchs ganze Tal. Audrun hielt sich im Schatten hinter dem Fenster verborgen und schaute und wartete, und die Sonne ging unter, und das Licht wurde grau und matt.
    Und in diesem grauen Licht sah sie sie an ihrer Tür vorbeimarschieren: zwanzig oder dreißig bewaffnete Polizeibeamte.
    Viel zu viele, dachte sie. Viel mehr, als hierfür nötig waren.
    Sie öffnete ihre Tür einen Spalt weit und stand reglos da und sah zu.
    Die bewaffneten Männer bewegten sich langsam und ruhig vorwärts und bildeten vor dem Mas Lunel einen Halbkreis. Travier war auch unter ihnen. Ein Mannschaftswagen wartete.
    Als die Hunde die Männer witterten – so viele menschliche Körper auf einmal –, begannen sie zu heulen und zu jaulen, und Audrun fragte sich, ob Aramon wohl – in einem letzten Akt der Verteidigung – die Hunde auf die Polizisten loslassen würde. Sie konnte hören, wie sie mit den Krallen am Maschendraht des Zwingers zerrten.
    Sie reckte den Kopf, um besser zu sehen. Drei der Beamten hatten sich aus der Gruppe gelöst und waren jetzt auf dem Weg zur Scheune, während die anderen schweigend auf das Mas zugingen. Audrun verweilte in Gedanken kurz bei denen, die zur Scheune wollten. Sie hörte, wie sie das neue Vorhängeschloss aufbrachen, das Aramon montiert hatte, und die Torflügel aufzogen …
    Und sie dachte, dass die Männer es, selbst mit ihren hellen Taschenlampen, vielleicht nicht gleich entdecken würden, weil das dunkle Gewölbe der Scheune so riesig war und weil sie, Audrun, alles so erfolgreich getarnt hatte … doch es würde nicht lange dauern, bis sie es fanden …
    Es dort hineinzufahren – ein Auto, das so viel größer und stärker war als ihr eigener kleiner Wagen – war eine Qual gewesen. Es war das Schlimmste von allem gewesen. Ihr Herz hatte so jämmerlich geflattert wie das eines Bantamzwerghuhns. Ihre Hände in den Gummihandschuhen waren schweißnass gewesen. In der Auffahrt hatte sie den Renault abgewürgt, hatte den Motor beim erneuten Starten laut aufheulen lassen müssen und war die ganze Zeit wie gelähmt vor Angst, dass Aramon sehen oder hören könnte, was sie da machte, und dann wäre alles – alles – verloren. Doch es kam niemand. Und kein anderes Auto war auf der Straße vorbeigefahren.
    Als der Renault dann erst einmal an Ort und Stelle stand – mitsamt dem eingesperrten grässlichen Sandwich – und Audrunsich daran machte, das Auto mit Sackleinen zu verhüllen und oben auf die Tücher ein wildes Sammelsurium kaputter Gerätschaften zu stapeln, die

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