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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nicht von Dingen reden, über die ich mir nicht sicher bin …«
    Sie senkte den Kopf. Beide Männer sahen sie scharf an. Audrun legte ihre Hände nebeneinander auf die gemusterte Wachstuchdecke, genau auf die Stelle, wo sie ihre ungezählten Mahlzeiten aß und ihre Tabletten einnahm und manchmal einfach nur reglos dasaß und darauf wartete, dass ihr Leben – ihr wirkliches Leben, in dem sie sich sicher fühlen würde – endlich begann. Dann holte sie einmal tief Luft, und es fiel ihr auf, wie gut es in ihrer kleinen Küche roch, weil diese beiden Männer, die in der Blüte ihres Lebens standen, hier saßen.
    »Das zweite Mal«, sagte Travier. »Sie sagten, Sie sind sich nicht sicher, aber Sie glauben, dass Sie Verey noch einmal gesehen haben, oder?«
    »Ich glaube, dass er es war«, sagte Audrun zögernd. »Ich könnte es nicht beschwören. Ich sah einen Mann zum Mas hinaufgehen«, sagte sie.
    »Allein?«
    »Ja. Ich schaute gerade aus dem Fenster und sah ihn – von hinten. Ich dachte nicht weiter drüber nach, nur dass Monsieur Verey offenbar beschlossen hatte, noch einmal herzukommen. Ich bin nicht hinausgegangen, um mit ihm zu reden. Ich sah nur, wie er zum Haus ging. Als ich dann etwas später aus dem Wohnzimmerfenster schaute, ging er – dieser Mann, den ich gesehen hatte – zusammen mit Aramon über die Straße …«
    »Mit Aramon, Ihrem Bruder?«
    »Ja.«
    Der Wachtmeister schrieb und schrieb. Traviers Gesicht war jetzt ganz dicht an Audruns Gesicht. Trotz seiner blauen Augen hatte er etwas, das sie an den jungen Raoul Molezon erinnerte.
     
    Sie ertappte sich bei der Frage, ob Travier wohl jemals in einem Café in Ruasse sirop de pêche für ein Mädchen bestellt hatte, das ihm lieb und teuer war.
    »Und danach?«, fragte er. »Haben Sie diesen Mann dann noch einmal wiedergesehen?«
    »Nein«, sagte Audrun.
    »Sind Sie sicher? Sind Sie absolut sicher? Sie haben die beiden nicht vom Fluss zurückkommen sehen?«
    »Nein. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah.«
    »Und Ihr Bruder? Wann haben Sie den wiedergesehen?«
    Audrun nahm noch einen Schluck Wasser. Das weiß ich nicht mehr«, sagte sie.
    » Ihn haben Sie also nicht mehr vom Fluss zurückkommen sehen?«
    »Nein.«
    »Und wann sahen Sie ihn wieder – ich meine Aramon?«
    »Das weiß ich nicht. Ich sagte Ihnen ja, mein Gedächtnis taugt nicht für Daten und Uhrzeiten. Es wird ein paar Tage danach gewesen sein. Ich denke, es war, als er einen toten Hund im Zwinger fand.«
    »Einen toten Hund?«
    »Ja. Er war sehr aufgebracht. Er liebt Hunde – seine Jagdhunde. Aber eines Morgens ging er nach draußen, und ein Tier war tot. Er war sehr aufgebracht.«
    »Jagt er Wildschweine mit den Hunden?«
    »Ja. Es gibt einen Verein in La Callune.«
    »Dann hat er also auch ein Gewehr?«
    »O ja. Keine Sorge, er hat einen Jagdschein. Wir wissen nicht, wieso der Hund gestorben ist. Aber es war sehr traurig für Aramon. Und … ich glaube, das war auch der Tag, an dem ich Aramon das Bild von Monsieur Verey in der Zeitung zeigte. Ich sagte zu ihm: ›Ist das nicht der Mann, der hier war?‹ Und er wurde sehr aufgeregt. Aber ich glaube, er war hauptsächlich traurig über den Hund, und außerdem wusste er nicht, wie er ihn in der harten Erde begraben sollte.«
    Der Wachtmeister hörte auf zu schreiben, und die beiden Männer sahen einander an. Audrun wusste, dass diese Blicke Worte enthielten. Im Kino wurden Worte häufig durch Blicke ersetzt, weil Filme lebensecht zu sein versuchten und zeigen wollten, wie die Dinge sich in der Wirklichkeit entwickelten – in Schweigepausen, in wortloser Dunkelheit …
    Travier stand jetzt auf. Er marschierte in der kleinen Küche auf und ab. Marschierte auf und ab, mit den Händen in den Hosentaschen. Dann blieb er stehen und sagte: »Mademoiselle Lunel, hat Ihr Bruder mit Monsieur Verey irgendeine Abmachung über den Verkauf des Hauses getroffen?«
    »Nein«, sagte Audrun. »Er dachte, Monsieur Verey würde es kaufen – für eine sehr große Summe –, doch dann änderte er seine Meinung.«
    »Wer änderte wessen Meinung?«
    »Monsieur Verey. Er änderte seine Meinung – das hat mein Bruder mir jedenfalls erzählt. Vielleicht hatte er ein anderes Haus gefunden. Und Aramon war –«
    »Ja?«
    »Nun, ich glaube, er war sehr enttäuscht. Es ging um sehr viel Geld. Er hatte gedacht, er würde jetzt reich.«
    Travier setzte sich wieder, und er streckte den Arm aus, als wollte er nach ihren Händen greifen, doch sie wich aus, faltete

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