Der unausweichliche Tag - Roman
unerträglich lang vor, als hätte es Jahre gedauert. Sie fasste sich ans Oberteil ihres Baumwollkleids.
»Ertrunken?«, fragte sie und bemühte sich um eine atemlose Stimme. »Einer der Fischer aus unserem Dorf ?«
»Nein. Wir sind zu neunzig Prozent sicher, dass es sich um die Leiche des vermissten englischen Touristen Anthony Verey handelt.«
» Pardi! «, rief Audrun. »Ich habe in der Zeitung darüber gelesen. Er war also im Fluss! Ist er ausgerutscht und hineingefallen? Der Fluss kann so tückisch sein, wenn man ihn nicht kennt …«
»Die Ursache seines Todes steht noch nicht fest«, sagte Travier, »aber wir haben Grund zu der Annahme, dass er an einer Verletzung im Unterleib starb, dass es sich um ein Verbrechen handelt.«
» Pardi! «, sagte Audrun noch einmal, und sie erhob sich und nahm ein Glas, das neben dem Spülbecken stand, füllte es mit Wasser und trank in großen Schlucken.
Travier wartete. Aus den Augenwinkeln sah Audrun, dass der flic sie genau beobachtete, während Travier nur geduldig abwartete und sich ruhig im Raum umschaute. Als Audrun wieder saß, räusperte Travier sich und sagte: »Wir haben Belege dafür, dass Monsieur Verey am 27. April hierherkam, um das Haus zu besichtigen, das Mas Lunel heißt …«
»Es tut mir leid«, sagte Audrun. »Oh, es tut mir wirklich leid, aber ich kann im Moment nicht sprechen. Ich bekomme keine Luft. Eine so schockierende Nachricht. Wer hat die Leiche denn gefunden?«
»Eine junge Frau, Madame. Zusammen mit einer Gruppe von Schulkindern. Genauer gesagt, war eines der Kinder als Erstes am Fundort.«
» Ah non! «, stöhnte Audrun. » Mon dieu , Dinge gibt es …«
»Ich weiß«, sagte Travier, als beantworte er Audruns stumme Gedanken. »Furchtbar.«
Audrun rieb sich die knochige Brust mit der Hand, als würde sie ihr Herz massieren. Als ihr Atem wieder etwas ruhiger wurde, sagte Inspecteur Travier: »Fühlen Sie sich besser? Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
» Mon dieu, mon dieu «, sagte Audrun. »Sie müssen wissen, dass ich diesem armen Mann begegnet bin. Ich habe ihn gesehen, als er noch lebte …«
»Sie sind ihm begegnet, als er Mas Lunel besichtigte?«
»Ja.«
»Mas Lunel ist das Haus Ihrer Familie?«
»Es war das Haus unserer Familie. Aramon, mein Bruder, erbte es, als unser Vater starb. Aber ihm wird allmählich alles zu viel … das Haus in Ordnung zu halten, und dann das große Grundstück dazu … Er ist älter als ich. Und er ist nicht gesund …«
»Hat er deshalb beschlossen, es zu verkaufen?«
»Er hat auf Geld gehofft, Inspektor. Auf viel Geld. Das ist die Geißel unserer modernen Welt. Alle wollen reich werden. Wir waren nie reich in dieser Familie, wir sind nur einigermaßen über die Runden gekommen. Ich weiß nicht, was Aramon den Kopf verdreht hat.«
Inspektor Travier machte eine Pause. Er stützte das Kinn in die Hand. Audrun nippte noch einmal an ihrem Wasser. »Das war doch der Tag, an dem Monsieur Verey mit einer Maklerin von Ruasse kam, um sich das Haus anzusehen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Audrun. »Daten und Tage. Ich weiß es nicht … O Gott, ich muss immer noch an das arme Kind denken, das die Leiche fand! So etwas kann einen doch fürs ganze Leben schädigen, nicht wahr? Es kann einen bis in die Träume verfolgen.«
»Sie wird therapeutisch betreut werden. Man wird ihr helfen zu vergessen. Aber können Sie mir jetzt sagen, wann genau Sie Monsieur Verey zum ersten Mal sahen?«
»Das war wahrscheinlich Ende April. Aber an das Datum kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich führe kein Tagebuch. Ich hätte nicht viel hineinzuschreiben.«
»Gut. Aber Sie glauben schon, dass Sie ihn an jenem Tag tatsächlich gesehen haben?«
»Ja.«
»Und können Sie uns sagen, ob er, abgesehen von der Immobilienmaklerin, allein war?«
»Nein. An dem Tag kam er zusammen mit seiner Schwester, glaube ich, und noch einer Freundin und der Maklerin. Und dann, beim zweiten Mal –«
Audrun brach mitten im Satz ab und hielt sich die Hand vor den Mund. Schweigen senkte sich über den kleinen Raum. Travier, der die gleichen intelligenten blauen Augen hatte, die so viele seiner Pendants im Film auszeichneten, wechselte einen Blick mit seinem Wachtmeisterkollegen, und dann wurden diesebestrickenden Augen ganz schmal und starrten Audrun mit gespannter Aufmerksamkeit an.
»Erzählen Sie mir von diesem ›zweiten Mal‹«, sagte er.
Audrun schüttelte den Kopf. »Ich bin mir ja nicht sicher«, sagte sie. »Ich sollte
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