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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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füllen, etwas gegen die Feuchtigkeit tun, die Ziegelböden erneuern, neue Türen und Fenster einsetzen. Aber nein, Serge begann, die beiden Gebäudeteile abzureißen.Er nahm die alten Tonziegel vom Dach, stapelte sie in seinem Leiterwagen, fuhr auf der alten, mit Schlaglöchern übersäten Landstraße nach Ruasse und verkaufte sie an einen Baustoffhändler unten am Fluss. Dann pickelte er den grauen Putz von den Wänden der beiden Flügel von Mas Lunel und brach die Steine heraus. Stolz erzählte er seinen Nachbarn, den Vialas und den Molezons, dass Steine sein »Erbe« seien, und jetzt – in der Nachkriegszeit, wo niemand mehr etwas zum Verkaufen habe – würde er damit, mit dem Verkauf von Steinen, ein Vermögen machen.
    Verkauf von Steinen.
    Bernadette hatte Serge angefleht: »Zerstör das Haus nicht, pardi ! Damit machst du uns arm.«
    »Ich mache uns nicht arm«, sagte er. »Ihr Frauen versteht einfach nicht, wie die Welt funktioniert. Ich mache uns reich.«
    Aber sie wurden nie reich. Jedenfalls merkte niemand etwas davon. Vielleicht hatte Serge das Geld ja irgendwo versteckt? In einem alten Düngemittelsack? In einem Loch in der Erde?
    In der Erde waren immer noch die geisterhaften Umrisse des ehemaligen Ost- und Westflügels von Mas Lunel zu erkennen. Es war ein prächtiges Gehöft gewesen, ein echtes Cévenoler Mas, mit genügend Raum für alle und alles – sämtliche Maschinen waren vor Regen geschützt, alle Tiere fanden im Winter Schutz, und ganz oben waren die magnaneries , die Dachböden, wo Jahr um Jahr die Seidenraupen gezüchtet wurden, wo sie gewaltige Mengen Maulbeerblätter vertilgten und ihre Kokons spannten, um anschließend zur letzten filature in Ruasse gebracht zu werden, wo man sie lebendig kochte und die kostbare Seide auf Spulen wickelte.
    Audrun konnte sich noch gut an die alten magnaneries im Mas erinnern, an den Geruch dort oben, wenn man die Treppe hinaufstieg und die kühlen, gut durchlüfteten Räume betrat, und an das Geräusch der dreißigtausend Raupen, die an den Blättern kauten, was wie Hagel auf dem Dach klang.
    »Es war eine schreckliche Arbeit«, hatte Bernadette ihr erzählt. »Eine schreckliche, schreckliche Arbeit. Man musste jeden Tag riesige Berge Maulbeerblätter sammeln. Und wenn es geregnet hatte und die Blätter durchweicht waren, dann wusste man, eine Menge Raupen würden sterben, weil sie von der Feuchtigkeit irgendeine Darmkrankheit bekamen. Aber dagegen konnte man nichts machen. Man konnte nur jeden Morgen die toten Raupen raussammeln und weitermachen. Und der Gestank da oben von den toten Raupen und all den grässlichen Ausscheidungen war einfach grauenhaft. Manchmal hat es mich regelrecht gewürgt. Ich hasste diese Arbeit, ich hasste alles daran.«
    Und doch hatte sie diese Arbeit klaglos verrichtet. Immer noch hing an der Wand von Audruns kleinem Wohnzimmer eine Fotografie, auf der Bernadette einen Korb mit Seidenkokons im Schoß hielt, mit einem Gesicht, das keine Spur von Wut oder Ekel verriet. Da lächelte nur ein müdes, hübsches Erntemädchen nach getaner Arbeit. Das Foto war verblichen und vergilbt, aber über dem Weiß der Seidenkokons lag immer noch ein letzter Abglanz von Licht.
    Alle französische Seide kam heutzutage aus Fernost. Was einst ein blühendes Gewerbe gewesen war, das Tausende Familien im Cévenol ernährt hatte, war in den 1950ern zum Erliegen gekommen. Als Serge die Steine von Mas Lunel verkaufte, hatte er schon gewusst, dass es vorbei war. Die hölzernen Brutgestelle wurden kleingehackt und verfeuert. Die letzte filature in Ruasse wurde abgerissen. Und obwohl Bernadette die Wut ängstigte, mit der Serge die zwei Flügel des U-förmigen Mas Lunel zerstört hatte, seufzte sie doch erleichtert auf, als die magnaneries endgültig verbrannt und verschwunden waren. Zu Audrun sagte sie: »Als das vorbei war, schlief meine Seele ruhiger.«
     
    Aramon schlief im selben Bett, in dem Bernadette gestorben war. Auf derselben Matratze. Im Bettzeug, das einst ihr gehört hatte.
    Audrun ging sehr ungern in dieses Zimmer, wo er die Erinnerung an ihre Mutter derart beschmutzte. Ihr Bruder hatte Bernadette nie so geliebt wie sie, Audrun. Er hatte seine Mutter das ganze Leben lang mit seinen Unverschämtheiten genervt und gequält, und als sie dann starb, hatte er nur ausdruckslos den Leichnam angeschaut und irgendetwas gekaut – vielleicht Tabak oder Kaugummi oder sogar ein Maulbeerblatt. Denn so war er, wie eine Seidenraupe mahlte er Tag und

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