Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
Nacht mit seinem Kiefer auf etwas herum, und seine Augen blickten leer.
    Nur widerstrebend hatte Audrun ihre Hilfe zugesagt und sich bereit erklärt, das Haus aufzuräumen und nach den Dingen zu suchen, die ihm abhanden gekommen waren.
    Während er die versprochenen Bantamhühner schlachtete, suchte sie zwischen all dem Krempel und Müll nach seiner Brille und seinen Ausweisen. Sie stopfte seine dreckigen Sachen in zwei Kissenbezüge, um sie bei sich in der Kate zu waschen und an der Leine von Sonne und Wind trocknen zu lassen. Sie fand keine saubere Bettwäsche zum Beziehen, ließ das Bett deshalb, wie es war, und legte die alten Decken und das Federbett in das geöffnete Fenster zum Lüften. Sollte er sich doch die ganze Nacht lang kratzen. Das kümmerte sie nicht.
    Sie tränkte einen Lappen mit Essig und putzte die Fensterscheiben. Sie fegte und wischte den Holzboden, trug den Teppich in den Garten und schlug ihn immer wieder gegen einen alten Maulbeerbaum. Und während sie den Teppich ausklopfte, hörte sie die Hunde in ihrem Zwinger losheulen. Und so ging sie nachschauen, ob Aramon sie ordentlich versorgte oder einfach verhungern ließ.
    Und auf dem Weg zum Hundezwinger blickte Audrun am Haus hoch, und da entdeckte sie dann auch den Riss in der Mauer. Es war ein gewaltiger Sprung in der Feldsteinwand. Er begann direkt unter dem Dach, gabelte sich wie ein Blitz, lief um einen Fenstersturz herum und verengte sich dann auf dem Weg zur Tür.
    Audrun blieb stehen und starrte nach oben. Wie lange gab es den Riss dort schon?
    Die Vorstellung, dass Dinge vielleicht schon lange existierten, ohne dass man sie wahrnahm, verwirrte sie. Hatte sie schon hundertmal auf diesen Blitzstrahl in der Stirnwand von Mas Lunel geschaut und ihn nie gesehen – jedenfalls bis jetzt nicht? Das Hundegebell wurde lauter. Der immer noch staubige Teppich in ihren Armen kam Audrun schwer wie eine Leiche vor. Sie ging langsam weiter.
    Und sie musste an die Männer denken, die ihre Kate gebaut hatten, sah sich wieder zusammen mit ihnen auf dem steinigen Boden zwischen den gerade gelieferten Gipskartonplatten sitzen, während der Camembert, den die Bauarbeiter mittags aßen, in der Sonne reifte, und hörte sie wieder sagen, dass überall in den Cevennen Risse in den Mauern alter Feldsteinhäuser auftraten. Je höher die Häuser, desto tiefer die Risse.
    Und keiner wisse, wieso, sagten die Männer. Diese Häuser waren gebaut, um der Zeit zu trotzen. Aber sie konnten der Zeit nicht trotzen. Die Zeit, so schien es, zerstörte alles in immer größerem Tempo, einem Tempo, das niemand sich jemals hätte vorstellen können.
    »Glauben Sie, Mas Lunel kann einstürzen?«, hatte sie die Bauarbeiter gefragt. Und alle hatten sich umgedreht und zu dem mächtigen Trumm von Haus hochgeschaut, das tief in seinem bewaldeten Hügel verankert war und so solide wirkte wie eine caserne . »Nicht das da«, sagten sie und schüttelten ihre Köpfe. »Das da wird uns alle überleben.«
    Audrun hatte nichts gesagt. Sie hatte einfach zugeschaut, wie die Männer sich den fettigen Camembert auf ihr Baguette strichen und Brot und Käse in großen Stücken in den Mund schoben. Aber heimlich glaubte sie, dass die Männer sich irrten. Wenn man einem U-förmigen Haus die Stützarme wegriss, wie Serge es getan hatte, dann würde, so glaubte sie, am Ende etwas sehr Verletzliches übrig bleiben. Alles, was unvollständig war –ein Kirschbaum, der wegen eines abgebrochenen Asts Saft verlor, ein Brunnen, dem der Deckel fehlte –, war der Natur ausgeliefert.
    In der Menschenwelt konnte allein die Liebe solche Lücken schließen.
    Audrun betrat den Hundezwinger, und die Tiere stießen sie fast um. Drahtig und furchtlos, gezüchtet, um Wildschweine zu jagen, scheuerten sie sich wund an ihrem eingepferchten Leben und verbrachten ihr ödes Dasein, die Nase gegen den Maschendraht gepresst.
    Aramon war immer noch Mitglied im Jagdverein und prahlte gern mit dem Eber, den er einst erlegt hatte, doch er ging nur noch selten auf die Jagd, da er wusste, dass seine Hand für die Schrotflinte nicht mehr sicher genug war. Er saß nun lieber vor seinem neuen Fernseher und starrte, mit dem Glas in der Hand, auf das aufregende, nervöse Leben auf dem Bildschirm, wo junge Menschen – Menschen mit größerer Beweglichkeit – quälten und töteten, wenn sie nicht selbst gequält und getötet wurden. Und seine Hunde waren beinah vergessen, wurden der Winterkälte und einem monotonen Einerlei

Weitere Kostenlose Bücher