Der unausweichliche Tag - Roman
Alès fuhr, nahm in seinem Kopf eine radikal neue Idee Gestalt an. Er beglückwünschte sich dazu, dass sie nicht nur radikal, sondern auch logisch war: Wenn sein Leben in London vorbei war, dann müsste er, wenn er wieder glücklich werden wollte, doch einfach nur zugeben, dass es tatsächlich vorbei war, und neue Schritte wagen. Er hatte sich nie vorstellen können, irgendwo anders als in Chelsea zu leben, doch jetzt hatte er sich das gefälligst vorzustellen. Entweder er tat das, oder er starb.
In ihrem Kern war die Idee also einfach und übersichtlich. Er würde die Wohnung verkaufen und sein Geschäft auflösen. Von seinem großartigen Sortiment an Lieblingen würde er nur jene Stücke behalten, denen seine besondere Leidenschaft galt (den Aubusson-Wandteppich, zum Beispiel) und den Rest Sotheby’s und Christie’s zum Verkauf überlassen. Ein oder zwei Objekte könnte er vielleicht am Telefon, für ziemlich astronomische Preise, direkt an amerikanische Kunden verkaufen und sie nach New York oder San Francisco liefern lassen. Und wenn das alles erledigt wäre, hätte er genügend Geld, um hier unten im Süden Frankreichs, in der Nähe von V, in dieser freundlicheren und einfacheren Welt ein wunderschönes Haus zu kaufen, und dann würde er sein Leben noch einmal neu beginnen – ein anderes Leben.
Anthony fuhr schnell, er mochte es, wenn das dunkle Band der Straße sich vor ihm entrollte und den Mietwagen einsog. Das orangefarbene Licht des Armaturenbretts beschien sein Gesicht, so dass er das trotzige Lächeln in seinem Spiegelbild erkennen konnte. Der Abend mit Lloyd Palmer und all die damit verbundenen komplizierten Gefühle materiellen Neids schienen Welten entfernt. Anthony war jetzt ganz und gar in der Gegenwart angekommen und herrlich lebendig. In seinem Kopf überschlugen sich die Ideen und Fantasien. Ahnte er nicht im Grunde schon lange, dass es ihm guttäte, in der Nähe von Vzu leben, in der Nähe der einzigen Person, für die er echte Zuneigung empfand? Im Verbund mit V könnte er wieder der jüngere Bruder sein und etwas von der erdrückenden Verantwortung für sein eigenes Wohlergehen loswerden, für das zu sorgen ihm immer schwerer fiel.
Veronica und Kitty saßen schweigend in Les Glaniques und warteten. In der Diele konnten sie das vertraute Ticken der alten Standuhr hören. Kitty hatte das Gefühl, als warteten sie auf etwas Bedeutsames, etwas Gefährliches und potentiell Katastrophisches wie einen Raketenstart.
Sie blickte zu ihrer Freundin, die in ihrem Lieblingssessel am hell lodernden Kaminfeuer saß, und hatte plötzlich den schrecklichen Gedanken, dass ihr gemeinsames Leben von nun an nie mehr so sein würde wie bisher. Und das war so entsetzlich – auch wenn es nur eine Möglichkeit, noch keine Realität war –, dass Kitty aufstehen, sich vor Veronica hinknien und den Kopf in ihren Schoß legen musste, auf Veronicas frisch gewaschenen Kattunrock.
»Was ist?«, sagte Veronica. »Was ist los, Kitty?«
Doch sie konnte nicht heraus mit ihrem Kummer. Er war zu irrational, zu emotional. Aber Kitty brauchte Trost. Was sie sich wünschte, war, dass Veronica ihr übers Haar strich, etwas Liebevolles und Vertrautes sagte. Dabei spürte sie Veronicas Anspannung: ein Zittern in ihrem rechten Bein, eine Unruhe, die den ganzen Körper erfasst hatte.
»Sag mir, was los ist«, bat Veronica erneut.
»Nichts«, sagte Kitty. »Streichle meine Haare, Liebes, bitte.«
Kittys kurzes Haar mit seinem Anflug von Grau war dicht und lockig. Veronica legte eine Hand sanft auf Kittys Kopf, griff nach einer Locke und dann noch einer und hielt sie zwischen ihren Fingern. Dann sagte sie: »Dein Haar lässt sich übrigens schlecht streicheln.«
In dem Moment summte die Klingel am automatischen Tor,und Veronica musste Kitty wegschieben, um aufstehen und den Türöffner drücken zu können. »Er ist da«, sagte sie überflüssigerweise.
Kitty sah die Wagenscheinwerfer aus der nächtlichen Dunkelheit auftauchen. Dann hörte sie Veronicas Stimme an der Tür, so betont heiter, als würde sie den lang ersehnten Klempner oder Steinmetz begrüßen. Und seine Stimme mit dem Chelsea-Näseln. So redeten die feinen Leute damals, vor langer Zeit, als Kitty noch ein mageres Mädchen war und im Gästehaus von Cromer beim Bettenmachen und Zubereiten des Frühstücks half.
Veronica führte ihn ins Wohnzimmer, hielt ihn an der Hand, den immer noch bewunderten jüngeren Bruder, den entzückten und entzückenden Knaben,
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