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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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mit schwerer Borte aus Brüsseler Spitze. Weiße Leinenservietten. Lals blau-weiß-goldenes Lieblingsporzellan mit Teetassen, Untertassen, Teetellern, Zuckerdose und Schale für Teeblätter und dazu ihre kleinen Lieblingsmesser mit den Elfenbeingriffen. Blaue Samtkissen für die harten Stühle. Schlüsselblumen in einer Kristallvase. Er war neun Jahre alt.
    Er hielt Ausschau nach Lal, um ihr zu helfen, wenn sie die Leiter zu seinem Versteck hinaufstieg. Und da kam sie auch schon, lief durch das Gebüsch da unten, trug ein lavendelfarbenes Kleid mit einer passenden lavendelfarbenen Jacke und weißen Leinenschuhen.
    »Da bin ich, mein Herz!«, rief sie. Und er ging an den Rand der Plattform des Baumhauses und gab seine Antwort: »Da bin ich, Mama!«
    Er half ihr die Leiter hinauf, obwohl sie seine Hilfe kaum brauchte, so wendig und so leicht, wie sie war. Sie stand in der Tür, und ihr von der Sonne beschienenes blondes Haar schimmerte hell. Als sie den gedeckten Teetisch sah, klatschte sie begeistert in die Hände.
    »Oh, wie lieb!«, sagte sie. »Das ist ja entzückend!«
    Er führte sie zu dem kleinen Fenster und zeigte ihr, wie das grüne Laub der Buche, in die er das Haus gebaut hatte, nach innen drängte und wie der Himmel ganz nah und strahlend wirkte. Fast so, als wäre es sein höchst privater Himmel. Dann ließ er sie auf einem der Stühle Platz nehmen, und das Haus schwankte leise, wenn der Baum sich bewegte, und sie horchten auf den Wind in den Blättern und das Nachmittagsgezwitscher der Vögel, und Lal sagte: »Welch ein Zauber. Ich bin verzaubert.«
    Mrs. Brigstock brachte den Tee und das Malzbrot und die Sahneröllchen auf einem silbernen Tablett, und Anthony kletterte hinunter und nahm das Tablett entgegen und – das war jetzt der Moment, auf den er sicherlich später am stolzesten sein würde – trug es nach oben, ohne dass er sich mit den Händen an der Leiter festhalten musste. Als er das Tablett vor Lal absetzte, klopfte sein Herz wie das eines Liebhabers.
    Später konnte er sich nicht mehr erinnern, über was sie eigentlich gesprochen hatten. Alles, woran er sich erinnerte, war ein Gefühl. Das Gefühl von Vollkommenheit. Es war ein Kunstwerk gewesen, sein Kunstwerk, ohne den geringsten Tadel. Und das hatten sie beide genau gewusst. Ihm war eine Stunde ästhetischer Perfektion gelungen.
     
    Lloyd erschien wieder im Speisezimmer, die Serviette immer noch in der Hand, und fand Anthony schlafend vor, den Kopf auf einem silbernen Teller.
    Er gab ihm einen Stups. »Wach auf, mein Guter«, sagte er. »Los …«
    Aber Anthony rührte sich nicht, konnte sich nicht rühren.
    Scheiße . Lloyd Palmer fluchte. Jetzt hatte er den ganzen Schlamassel am Hals, musste Anthony ins Bett bringen, Angst haben, dass er sich auf einen von Benitas unmöglich teuren Teppichen erbrach, das Frühstück für ihn richten, sich vergewissern, dass er sein Flugzeug oder seinen Zug oder was auch immer nicht verpasste. Und weshalb das alles? Wegen irgendwelchem halbgaren Gequatsche über Glück.
    »Scheiße«, sagte er noch einmal. »Beschissenes Glück.«

W ährend Veronica für Anthonys Besuch einkaufte und kochte, flüchtete Kitty in ihr Atelier, einen Schuppen aus Feldsteinen hinter dem Haus, in dessen düsteren Verschlägen einst Tiere gehaust hatten. Die Dunkelheit war mit Hilfe von Oberlichtern und einer schweren Glastür in der Westwand aufgehellt worden. Im Winter heizte Kitty den Schuppen mit einem Holzofen.
    Jetzt lehnte sie am Porzellanwaschbecken und begutachtete ihr Aquarell mit den Mimosenblüten, das immer noch auf der Staffelei stand. Und dieses Stück schrumpfte nicht unter ihrem prüfenden Blick wie so viele ihrer Bilder; im Gegenteil, Kitty fand, es sei wahrscheinlich das Beste, was sie seit etwa einem Jahr gemacht hatte. Die Farben waren sehr fein, nicht zu grell, und sie hatte das Paradoxe der Blüten einfangen können – sie existierten einzeln für sich und gleichzeitig als Ganzes –, ohne dass dem Ergebnis Kittys große Anstrengung anzumerken war. Selbst ihr hoch verehrtes Idol, die Aquarellmalerin Elizabeth Blackadder, hätte dieses Bild vielleicht mit ihrer knappen, aber deutlichen Zustimmung beehrt, dachte sie. Und sie war zuversichtlich, dass es Eingang in Gärtnern ohne Regen finden würde: »Acacia decurrens, dealbata «. Aquarell von Kitty Meadows.
    Angespornt von dieser aufregenden Vorstellung, fühlte Kitty sich in der Stimmung für etwas Neues.
    In der Malerei – vielleicht in allen

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